Miss Seetons erster Fall
könnte. Vielleicht würde das klappen. Aber da keine Aussicht besteht, daß die Kriminalfritzen hierher kommen – meinen Sie nicht, daß Sie mit dem Scotland-Yard-Mann, der für Sie zuständig ist, ein Wort reden könnten? Wenn Sie einfach sagen, Sie hätten in der Nähe vom Singing Swan jemand gesehen, der wie dieser Typ Lebel aussieht?«
»O nein«, rief sie erschrocken. »Das geht nicht. Das wäre gelogen.«
»Nein, warten Sie.« Er sprach hastig weiter: »Es könnte doch sein, daß er hier ist, oder wenigstens in der Nähe. Nach den Beschreibungen, die ich heute morgen gelesen habe, paßt er sehr gut zu der Blase vom Singing Swan. Ich pumpe mir oft Mutters Wagen und treibe mich da rum, einfach, um die Dinge dort im Auge zu behalten. Morgen oder übermorgen abend könnten Sie mal mitfahren, und es wäre doch möglich, daß Sie einen von den Kerls da irrtümlicherweise für Lebel halten.« Miss Seeton schüttelte den Kopf und stand auf. »Nein, Nigel, es tut mir leid, aber das geht leider nicht. Es wäre unwahr und eine Irreführung der Polizei. Ich glaube, das wäre grundfalsch. Außerdem weiß ich ja von alledem nichts. Aber kann denn Scotland Yard nicht ohne Anzeige eingreifen?« Sie sah, wie deprimiert er war. Eine Schande, ihn in eine solche Sache hineinzuziehen. Wenn doch nur Sir George. Aber nein. Da mußte sie Nigel recht geben, das war wirklich unmöglich. Als Friedensrichter konnte Sir George keinesfalls dulden, daß Miss Venning unbehelligt blieb, falls sie, wie Nigel offenbar befürchtete, zu Recht beschuldigt werden konnte. Aber daß sich Nigel an sie wandte, ausgerechnet an sie. Was konnte sie schon tun? Zu scheußlich, ihm nicht helfen zu können. Natürlich war das übertrieben, aber sie hatte das Gefühl, ihn im Stich zu lassen. »Das einzige, was ich mir vorstellen könnte«, sagte sie zögernd, versuchsweise, »und was ich tun würde, wenn Sie es möchten – und wenn Sie glauben, daß es überhaupt Zweck hat –, wäre, Superintendent Delphick mitzuteilen, was Sie mir erzählt haben, natürlich ohne Ihren Namen zu nennen oder Miss Venning zu erwähnen. Ich könnte versuchen, das Problem zu erklären und ihn um Rat fragen. Er hat mir gesagt, daß er bei dem Inquest dabei ist, also sehe ich ihn auf jeden Fall. Er ist sehr nett und so verständnisvoll. Ich glaube bestimmt, wenn er einen Rat geben oder irgendwie helfen kann, dann tut er es.«
4
Während der Rückfahrt nach dem Inquest kam kaum eine Unterhaltung auf. Nicht nur dem Pfarrer, auch Miss Seeton gaben die Vorgänge des Vormittags genug Stoff zum Nachdenken, obwohl die Verhandlung so kurz gewesen war, wie Superintendent Delphick vorausgesagt hatte, und man, wie erwartet, César Lebel als des Mordes schuldig befunden hatte.
Miss Seeton war Nigel Colvenden im Grunde dankbar, daß er ihr die Augen geöffnet hatte, welche Berühmtheit sie geworden war. Sie hatte im voraus den klugen Beschluß gefaßt, was sich nicht ändern ließ, zu ertragen und möglichst zu ignorieren. Sie hatte sich vorgenommen, zurückhaltend zu sein und alles zu vermeiden, was Kommentare hervorrufen konnte, ohne dabei aber ihre Wesensart in Betracht zu ziehen, die ihr naturgemäß einen Strich durch die Rechnung machen mußte. Instinktiv nämlich verhielt sie sich stets der jeweiligen Situation entsprechend, und wenn sie auch konventionell bis auf die Knochen war, so konnte dem Zuschauer ihr natürliches und logisches Verhalten in unkonventionellen Situationen als höchste Exzentrik erscheinen.
Als der Coroner ihre Tapferkeit und Unerschrockenheit gelobt hatte, war sie zusammengezuckt, weil ihr Name in der Öffentlichkeit genannt wurde, und hatte sich innerlich gewunden, im übrigen aber nichts von dem aufgenommen, was er sagte. Nach der Verkündung des Befunds hatte der Superintendent sie und den Pfarrer zum Lunch eingeladen, doch Reverend Treeves hatte sich entschuldigt und versprochen, sie am Bahnhof pünktlich vor Abfahrt des Zuges zu erwarten.
Das gemeinsame Mittagessen war reizend gewesen, und ihrem charmanten Tischgenossen war es mit Takt und Offenheit gelungen, sie beinahe mit der Rolle zu versöhnen, die sie gespielt hatte. Er hatte ihr begreiflich gemacht, daß man manchmal, wenn man getan hatte, was man für richtig hielt, mit unerwünschter Publicity bezahlen mußte – es sei eine Art Buße. Andererseits hatte er ihr nicht begreiflich machen können, daß ihr selbst noch immer Gefahr drohte und die Anklage gegen Lebel trotz des Befunds des Coroners
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