Missbraucht
Gebäude zeigte sich auf den ersten Blick in einem guten und sauberen Zustand, auf jeden Fall viel besser, als der normal in Rumänien übliche Standard für solche Einrichtungen. Doch wie so oft täuscht der erste Eindruck und bei genauerer Betrachtung erinnerte das Haus an die Kulisse eines amerikanischen Westerns. Von vorne etwas darstellend, aber hinter der Front gähnende Leere. Mehr Schein als Sein. In einem kargen, ungeheiztem Schlafsaal schliefen 36 Kinder auf mit eingetrocknetem Urin und Erbrochenem, verdreckten Matratzen. Haut- und Darmkrankheiten waren an der Tagesordnung. Durch zerbrochene Fensterscheiben zog stetig kalte Luft ein. Die kümmerliche Verpflegung hielt die Heiminsassen am Leben, mehr nicht. Viele der Kinder waren ohne Übertreibung wandelnde Skelette, die Assoziationen an dunkelste europäische Geschichte wach werden ließen. Die Sterblichkeitsrate unter den Heimkindern in Rumänien war erschreckend hoch, es gab sogar Einrichtungen, die über einen eigenen Friedhof verfügten.
Aber Mathae überlebte und mit ihm seine kleine Schwester. Seitdem ihre Mutter sie in Baijush zurückgelassen hatte, fühlte sich der Junge für sie verantwortlich. Es war unglaublich und grenzte an ein Wunder, wie er diese Aufgabe ausfüllte. Über die Jahre war vielleicht das der Grund dafür, dass Mathae all den Leiden und all den Demütigungen, denen sie täglich ausgesetzt waren, getrotzt hatte. Dieses schmächtige, in sich gekehrte Bürstchen hatte gelernt eine Überlebensstrategie zu entwickeln, die dem Pflegepersonal nicht unentdeckt geblieben war. Er war auf sonderbare Weise zum heimlichen Liebling der stellvertretenden Leiterin Helena Simonescu geworden. Ihr lag das Wohl der Kinder wirklich am Herzen und sie beobachtete mit Staunen und Bewunderung Mathaes fürsorgliche Hilfe für seine Schwester. Frau Simonescu sollte in den folgenden Jahren zweimal eine gewichtige Rolle im Leben der Kinder spielen.
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18.05.1989
Zwei Jahre waren Nadia und Mathae inzwischen im Jugendheim von Cesereau untergebracht. Mathae hatte sich den schlimmen Bedingungen angepasst und untergeordnet. Seine Zurückhaltung und Unterwürfigkeit gegenüber den Annäherungen vonseiten der Mitbewohner oder des Pflegepersonals gehörte zur Taktik dieses kleinen Kerls, um seiner Schwester und sich, das Leben ein klein wenig menschlicher zu gestalten. Außerdem stand er seiner Mutter in der Pflicht, das hatte er nie vergessen und deshalb kümmerte er sich aufopferungsvoll um sein Schwesterchen. Während den anderen Kindern und Jugendlichen, das Gefühl für soziale Bindungen und Kontakte mehr und mehr abhandenkam, suchte Mathae so oft es ging, die Nähe zu Nadia. Dann streichelte er sie, nahm sie an die Hand und hielt sie manchmal fest an sich gedrückt im Arm. Es war unglaublich das zu beobachten und für die Umstände die im Haus, oder besser gesagt, in allen Heimen Rumäniens herrschten, ganz außergewöhnlich. Nadia hingegen konnte sich unter diesen Gegebenheiten nicht normal entwickeln. Sie lernte nicht richtig zu sprechen, verfiel des Öfteren in Apathie und verweigerte dann die karge Nahrung. Aber Mathae schaffte das, woran das Pflegepersonal scheiterte. Er holte sie immer wieder zurück aus ihrer eigenen Welt und das Mädchen entwickelte das gleiche große Gefühl für ihren Bruder, wie er es ihm entgegen brachte. Im Frühjahr1989 kam Nadia vor die Ärztekommission, die darüber zu entscheiden hatte, wie es mit ihr weiterging. Aufgrund ihres auffällig teilnahmslosen Verhaltens und der kommunikativen Defizite war sie dafür vorgesehen, in eines der berüchtigten Todeslager wie Cighid verlegt zu werden. In diese Lager kamen die Kinder, die offensichtlich für die Gesellschaft keinerlei Wert darstellten. Viele starben schon nach den ersten Wochen. Nur Dank der Intervention von Helena Simonescu und ihren guten Beziehungen zum örtlichen Chef der Securitate durfte Nadia nach langen Diskussionen mit der Kommission, bei ihrem Bruder in Cesereau bleiben. Damit hatte sie dem Mädchen das Leben gerettet.
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17.06.1994
Nicoletta verstand es gut, Ilia mehr und mehr für sich zu gewinnen. Auch wenn er ein noch so ausgefuchster Nachrichtenmann gewesen war, ihre zweifelsohne vorhandenen Reize, entgingen ihm nicht. Sie hatten früher einige Nächte zusammen verbracht, in denen sich Nicoletta gleichsam als Naturtalent und als willige Schülerin erwiesen hatte. Welchem Mann gefiel das nicht und welcher Mann würde nicht daran zurückdenken? Aber
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