Missgeburt
zuerst mein aufrichtiges Beileid ausdrücken, Señora Alcatrás.«
Daphne Alcatrás nickte, mit undurchdringlicher Miene und trockenen Augen. »Danke für Ihre Anteilnahme. Mein Sohn war noch viel zu jung, um zu sterben, aber jetzt ist er wenigstens in Gottes Obhut.« Sie senkte ihren Kopf und stippte die Asche vom Ende der langen Zigarettenspitze in einen Aschenbecher. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Sehr gern«, antwortete Nereyda.
Die Zwergin erteilte auf Spanisch ein paar kurze Anweisungen und hielt dann Smalltalk, bis die Haushälterin ein Tablett mit einem silbernen Teeservice hereinbrachte. Die Hausherrin schenkte ihren beiden Gästen daraus ein und reichte eine Schale mit Gebäck herum.
»Sie werden sich bestimmt fragen, warum ich den weiten Weg von San Francisco auf mich genommen habe, um Sie persönlich aufzusuchen, señora «, begann Samuel schließlich und blies auf die dampfend heiße Flüssigkeit.
»Ich glaube, da schon eine ganz gute Idee zu haben, Mr. Hamilton. «
»Ich muss dringend mit Sara Obregon sprechen. Ich weiß nämlich, dass sie bei Ihnen ist.«
»Das ist nicht ganz richtig. Sie wohnt zwar nicht weit von hier, aber nicht bei mir, wie Sie es ausdrücken. Was wollen Sie von Sara?«
»Sie ist aus San Francisco verschwunden, ohne ihren Angehörigen oder sonst jemandem ein Wort zu sagen, und nun machen sie sich natürlich große Sorgen und versuchen verzweifelt, sie zu finden. Ich habe die Polizei oder sonstige offizielle Stellen in dieser Sache bisher nur deshalb aus dem Spiel gelassen, weil Dominique mir versichert hat, dass Sie mir helfen würden.«
»Ich verstehe. Dennoch werden Sie morgen noch einmal herkommen müssen. Denn Sie werden sicher verstehen, dass ich diese Entscheidung nicht über Saras Kopf hinweg treffen kann. Deshalb möchte ich sie zuerst fragen, ob sie überhaupt bereit ist, sich mit Ihnen zu treffen. Falls ihre Antwort positiv ausfällt,
wird sie morgen hier sein, wenn Sie so freundlich wären, noch einmal herzukommen. Wäre Ihnen sechzehn Uhr recht?«
»Vielen Dank, Señora Alcatrás. Dann also bis morgen Nachmittag. «
»Ich hoffe, Ihr Wunsch stößt bei Sara auf offene Ohren. Auf jeden Fall möchte ich Ihnen jetzt schon für Ihren Besuch danken, Mr. Hamilton, und auch Ihnen, Señorita López.« Mit diesen Worten drückte Daphne Alcatrás graziös ihre Zigarette aus, rutschte von der Couch auf den Boden und deutete mit einer weit ausholenden Handbewegung in Richtung Tür.
Als Samuel und Nereyda am nächsten Tag erneut in die Avenida de las Alamedas kamen, führte sie die alte Haushälterin wie am Vortag ins Wohnzimmer. Als kurz darauf die Hausherrin erschien, trug sie ein bodenlanges taubenblaues Abendkleid, das für einen Kostümball hervorragend geeignet gewesen wäre, aber in der glühenden Nachmittagshitze von Juarez eindeutig fehl am Platz war.
Als sie alle um den Couchtisch im Wohnzimmer Platz genommen hatten, nickte die Gastgeberin der Haushälterin zu. Daraufhin verließ die alte Mexikanerin den Raum und kehrte kurz darauf mit einem Baby in den Armen zurück. Ihr folgte eine junge Frau in Jeans und T-Shirt, die Samuel sofort erkannte. Es war Sara Obregon. Sie sah besser aus, als er erwartet hatte.
»Das sind Sara und mein einziger Enkel«, verkündete Daphne voller Stolz.
Samuel verschlug es die Sprache. Das Kind in den Armen der alten Haushälterin hatte auffallende Ähnlichkeit mit Octavio, dessen Foto Samuel im Büro der Grenzpolizei von Nogales gesehen hatte. »Ihre Eltern machen sich große Sorgen um Sie, Sara«, brachte er nur hervor.
»Ich weiß«, antwortete sie. »Und ich werde Ihnen auch gleich erzählen, wie es zu alldem gekommen ist. Aber erst einmal möchte ich Ihnen meinen Sohn Raymundo Schwartz vorstellen.«
»Was für ein süßer Junge«, entfuhr es Nereyda. »Darf ich ihn mal halten?«
Sara nahm der Haushälterin das Baby ab und reichte es behutsam Nereyda, die auf Spanisch zärtlich auf den Kleinen einzureden begann.
»Könnten wir bitte kurz allein mit Sara sprechen?«, fragte Samuel die Hausherrin.
Die Zwergin machte der Haushälterin ein Zeichen, worauf die beiden Frauen das Wohnzimmer verließen und die Tür hinter sich schlossen.
Samuel wartete eine Weile, dann ging er zur Tür und legte ein Ohr dagegen, um sich zu vergewissern, dass niemand daran lauschte. »Ich muss Ihnen eine ganze Reihe von Fragen stellen, Sara, und ich bitte Sie dringend, sie mir wahrheitsgemäß zu beantworten. «
»Keine Angst. Ich
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