Missgeburt
werde Ihnen nichts verschweigen.« Sie seufzte erleichtert, dass nun endlich die ganze Wahrheit an den Tag käme. Doch dann fügte sie mit einem verschwörerischen Flüstern hinzu: »Aber ich möchte nicht, dass irgendetwas von dem, was ich Ihnen jetzt erzähle, Großmutter zu Ohren kommt. Kann ich mich da auf Sie verlassen?«
»Das war mir klar, sobald ich den Kleinen gesehen habe«, sagte Samuel.
»Sie glaubt, er ist das Kind ihres Sohns, und auch ich fürchtete zunächst, es könnte tatsächlich so sein. Deshalb habe ich auch eingewilligt, als der Prediger vorschlug, mich zu seiner Mutter zu schicken. Ich bin sehr froh, dass Octavio der Vater des Kleinen ist und er nicht unter einer Missbildung leiden muss.«
»Dass Sie etwas mit dem Reverend hatten, dachte ich mir bereits«, erklärte Samuel.
»Leider ja. Aber nicht freiwillig. Er hat mich mehr oder weniger genötigt. Ich hatte natürlich große Angst, von dem Prediger schwanger geworden zu sein, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb ich aus San Francisco verschwunden bin. Ich
habe mir auch Sorgen gemacht, das Kind könnte missgestaltet oder behindert sein, wenn Octavio der Vater wäre.«
»Wieso das?«, fragte Nereyda erstaunt.
»Als ich begann, mich mit Octavio zu treffen, beschwor mich mein Vater, mich auf keinen Fall weiter auf ihn einzulassen, und gestand mir, dass er mein Bruder war.«
»Was?«, entfuhr es Samuel. »Wie denn das?«
Sara seufzte. »Als mein Vater noch jung war, hatte er in Mexiko bereits mit einer anderen Frau ein Kind. Octavio. Erst danach hat er meine Mutter kennengelernt und geheiratet und ist mit ihr in die Staaten ausgewandert. Er hätte natürlich nie damit gerechnet, dass sein Sohn einmal in dieselbe Stadt kommen oder sich sogar in eine seiner Töchter verlieben könnte. Er hat mir erst die Wahrheit gestanden, als er merkte, dass es uns ernst war. Das hat mich allerdings nicht davon abgehalten, weiter mit Octavio zusammen zu sein. Aber als ich dann schwanger wurde, habe ich mir doch Sorgen gemacht, dass das Kind behindert sein könnte.«
Zuerst wollte Samuel nicht an einen solchen Zufall glauben, doch dann wurde ihm bewusst, dass so etwas in der kleinen Welt der mexikanischen Einwanderer keineswegs ausgeschlossen war. Zugleich musste er an das Gespräch mit Bernardi denken, in dem sie die Möglichkeit eines Inzests in Betracht gezogen hatten, auch wenn sie damals an ein Vater-Tochter-Verhältnis gedacht hatten; auf die Idee, dass es Bruder und Schwester sein könnten, waren sie nie gekommen.
Nach kurzem Schweigen fragte Samuel: »Und wie sind Sie dann in die Fänge des Reverend geraten? Soviel ich gehört habe, haben ihm die Gewerkschaftsführer jede Menge junger Mädchen in seine Garderobe geschickt. Waren Sie eines von ihnen?«
»Natürlich nicht.«
»Ich habe nach einer seiner Predigten einmal mehrere Mädchen nach hinten gehen sehen, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was sie an ihm finden mochten«, fuhr Samuel fort.
»Mich hat fasziniert, was er über Religion zu sagen hatte, und deshalb fing ich an, regelmäßig zu seinen Predigten in die Kirche zu kommen. Als sich dann herausstellte, dass Octavio mein Bruder war, suchte ich beim Reverend Rat. Er bestellte mich in seine Garderobe und gab mir als Erstes eine Tasse Tee zu trinken. Und als er sich dann plötzlich über mich hermachte, war ich, vermutlich wegen des Tees, wie gelähmt und konnte mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen.« Ihr Ton war zunehmend wütender geworden. »Und dann blieb meine Periode aus. Ich geriet in Panik und drohte dem Prediger, zur Polizei zu gehen, obwohl ich nicht glaube, dass ich das tatsächlich getan hätte. War es für mich allein schon schlimm genug, vergewaltigt worden zu sein, wollte ich auf keinen Fall auch noch Schande über meine Familie bringen. Gar nicht erst zu reden davon, dass es Octavio auf keinen Fall erfahren durfte, weil er den Prediger sonst bestimmt umgebracht hätte.
Als ich schließlich Gewissheit hatte, dass ich schwanger war, wollte ich auf keinen Fall ein behindertes Kind von einem Zwerg oder von meinem eigenen Bruder zur Welt bringen. Vor solchen Liebesbeziehungen mit Verwandten hat man uns in der Schule ausdrücklich gewarnt. Deshalb habe ich versucht, das Kind loszuwerden, aber es hat nicht geklappt.«
»Wann haben Sie beschlossen, sich hierher zurückzuziehen?«, fragte Samuel.
»Um mich zu besänftigen, bot mir der Prediger an, mich zu seiner Mutter nach Juarez zu schicken,
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