Missgeburt
jemand aus den Reihen des SFPD gewarnt haben muss, dass wir anrücken würden.«
»Genau darauf will ich hinaus, Bruno. Aber ehe wir hier weiter im Nebel herumstochern, sollten wir Dominique auf den Zahn fühlen. Ich werde der Dame gleich mal einen Besuch abstatten. Ich ruf dich an, wenn ich mit ihr fertig bin.«
Dominique saß auf der Sofakante ihrer bis vor kurzem noch sehr großzügig eingerichteten Wohnung. Die Lampen, die bei Samuels letztem Besuch die Götterfiguren beleuchtet hatten, strahlten jetzt den blanken Fußboden an und verstärkten den Eindruck von Leere und Verlassenheit. Mit ihrem zerzausten Haar sah Dominique aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und war nicht geschminkt,
sodass die Brandnarbe in ihrem Gesicht noch deutlicher zu sehen war als sonst. Obwohl sie damit rechnen musste, dass Samuel sie aufsuchen würde, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich zurechtzumachen.
»Ich kann mir gut vorstellen, wie furchtbar das alles für Sie sein muss, Dominique«, begann Samuel. »Aber nachdem ich mich an meinen Teil der Abmachung gehalten habe, sind jetzt Sie an der Reihe. Ich werde Ihnen auch gleich den Grund nennen, warum ich ungeachtet Ihres Schmerzes so schonungslos und direkt bin. Ich glaube nämlich, dass Dusty Schwartz von derselben Person ermordet wurde, die auch für Octavios Tod und Saras Verschwinden verantwortlich sein dürfte.«
Dominique griff nach einem Papiertaschentuch, putzte sich die Nase und begann: »Also gut, ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß.«
Samuel holte Block und Stift heraus und setzte sich.
»Aber alles, was ich Ihnen jetzt sage, bleibt bitte unter uns«, fügte Dominique in flehendem Ton hinzu.
Melba saß am Stammtisch des Camelot über einem Stapel Rechnungen. Als Samuel die Bar betrat, drückte sie ihre Lucky Strike aus und schaute ihn durch eine dicke Brille, die er sie noch nie hatte tragen sehen, fast mitleidig an. Er wollte deswegen schon eine Bemerkung machen, aber sie kam ihm zuvor. »Wie siehst du denn aus, Samuel? Hast wohl eine anstrengende Nacht hinter dir.«
»Das kann man wohl sagen.« Der Reporter ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen. Dann berichtete er ihr von Dustys Tod und seinen Befürchtungen, dass ihre Ermittlungen nun endgültig ins Stocken geraten könnten. »Aber das ist noch keineswegs das Schlimmste«, fügte er hinzu.
Melba drehte sich in Richtung Bar und rief durch das Lokal: »Einen doppelten Scotch on the rocks für meinen jungen Freund hier.«
»Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich hergekommen bin, Melba.«
Melba nahm die Brille ab und drehte sich noch einmal in Richtung Bar. »Dieser arme Teufel hat verdammt viel Kummer. Bringt ihm am besten gleich zwei Doppelte.«
»Der eigentliche Grund, warum ich hier bin, ist: Ich wollte dich fragen, ob du mir zweihundert Dollar leihen kannst.« Samuel wurde rot und senkte den Blick zu Boden.
»Ist es um deine Finanzen so schlecht bestellt?«
»Ich muss dringend nach El Paso, und mein Chef ist sauer, weil er findet, ich hätte schon zu viel Zeit mit dieser Story verplempert, ohne dass etwas dabei herausgekommen wäre. Deshalb hat er mir kurzerhand den Geldhahn zugedreht.«
»Adieu, Spesenkonto? Muss ein schwerer Schlag sein für jemanden, der auf so großem Fuß lebt wie du.«
»Du weißt ja, dass ich nicht mit Geld umgehen kann. Jedenfalls hätte er sich dafür keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. Um die Richtigkeit von Dominiques Aussagen überprüfen zu können, muss ich sofort nach El Paso fahren. Ehrenwort, Melba, sobald ich wieder flüssig bin, zahle ich dir das Geld zurück.«
»Ich mache mir keine Sorgen, dass du es nicht zurückzahlen könntest, Samuel. Das tust du immer. Ich helfe dir natürlich gern. Aber wenn du dort unten deine Nachforschungen anstellst, solltest du vielleicht auch noch folgende Fragen klären …«
14 JUAREZ
S amuel stand auf Zehenspitzen auf der mexikanischen Seite der Grenze und beobachtete die Arbeiter, die auf der berühmten Eisenbrücke über den Rio Grande nach El Paso, Texas, strömten, um dort ihrer täglichen Arbeit nachzugehen. Unter den Hunderten von Mexikanern, die in den Vereinigten Staaten als Tagelöhner und Haushaltshilfen ihr Geld verdienten, waren auch zahlreiche Kinder mit Schulranzen, die eine amerikanische Schule besuchten, um Englisch zu lernen und sich so bessere Berufsaussichten zu verschaffen. Samuel begann bereits unruhig zu werden, doch dann
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