Missgeburt
lange Spitze und überlegte, ob sie damit eines von Saras Geheimnissen verriete. Dann zündete sie die Zigarette mit einem Streichholz an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch zu Samuel hoch, der ihn gierig einsog. Auch er hätte jetzt liebend gern eine Zigarette geraucht und war versucht, Daphne um eine zu bitten.
»Ich kann mich nicht erinnern, sie von jemand anderem sprechen gehört zu haben«, antwortete sie. »Außer ihrer Familie natürlich. Aber sie hat sehr viel darüber erzählt, wie viel Schande die Schwangerschaft über sie gebracht hat …«
Nereyda und Samuel saßen in einem Restaurant auf der amerikanischen Seite des Rio Grande. Sie hatten einen Fensterplatz, von dem aus sie die Brücke sehen konnten, auf der sie sich am Morgen getroffen hatten. Inzwischen lag sie vollkommen verlassen da, nur der Fluss glitzerte im Mondschein, und auf der anderen Seite waren die Lichter von Juarez zu sehen. Da in der mexikanischen Stadt kein Gebäude höher als zwei Stockwerke war, betrug ihre Flächenausdehnung das Drei- oder Vierfache von El Paso.
Nereyda zupfte stumm an ihrer weißen Serviette, und Samuel rührte mit dem Finger in seinem Scotch on the rocks.
»Das arme Mädchen hätte fast einen Schock erlitten«, bemerkte Nereyda.
»Ja, das war wirklich sehr ungeschickt von mir«, gab Samuel bedrückt zu. »Ich dachte, sie wüsste längst, dass Octavio tot ist.
Zumindest bis zu dem Moment, als sie sagte, sie wolle nach San Francisco zurückkehren, um mit ihm zusammenzuleben.«
»Es bringt nichts, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie so reagieren würde.«
»Sie hat diesen Jungen geliebt und sich so darauf gefreut, ihn endlich wiederzusehen, und dann kann ich meine blöde Klappe nicht halten.« Samuel blickte zerknirscht in Nereydas ernstes Gesicht.
»Aber irgendjemand musste es ihr doch sagen«, entgegnete Nereyda bestimmt. »Früher oder später hätte sie es auf jeden Fall erfahren, und nun waren Sie eben derjenige, der ihr die schlechte Nachricht überbringen musste.« Sie berührte sanft seine Hände, die sich angespannt um sein Weinglas krampften.
»Sara gefunden zu haben und zu wissen, dass sie wohlauf ist, ist natürlich eine enorme Erleichterung. Zudem bringt es etwas mehr Klarheit in unseren Fall, obwohl es auch zeigt, dass wir uns in vielerlei Hinsicht gründlich getäuscht haben. Octavios Tod bleibt genauso wie der des Zwergs weiterhin ein Rätsel.«
»Haben Sie denn hier nichts herausgefunden, was Ihnen weiterhilft? «
»Zu wissen, dass Sara noch am Leben ist, stellt selbstverständlich einen großen Fortschritt dar. Aber sonst bin ich auf nichts gestoßen, was mich weiterbrächte. Bisher waren wir eindeutig auf der falschen Fährte.«
Nereyda nickte.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich die ganze Zeit nur über meinen Fall rede. Was gibt es eigentlich bei Ihnen Neues?« Samuel sah sie lächelnd an.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, seufzte sie. »Es ist Tag für Tag die gleiche Leier. Ich würde zu gern mal aus diesem eintönigen Trott ausbrechen, aber irgendwie kommt immer wieder etwas dazwischen.«
»Wie wär’s mit einer kleinen Luftveränderung?« Samuel machte eine schwungvolle Handbewegung. »Kommen Sie doch einfach
nach Kalifornien. Dort gibt es unzählige Wanderarbeiter, die Ihre Hilfe dringend brauchen könnten. Außerdem ist es der ideale Ort, um alles hinter sich zu lassen und noch einmal neu anzufangen. Auch ich habe das gemacht, und glauben Sie mir, ich bin keineswegs der Einzige. Nicht umsonst gilt Kalifornien als der beste Ort, um den amerikanischen Traum zu leben.«
»Sie werden lachen, aber mit diesem Gedanken habe ich tatsächlich schon gespielt«, gestand Nereyda. »Mein Leben war nämlich alles andere als leicht. Aber ich bin nicht der Mensch, der vor seinen Problemen davonläuft. Denn egal, wohin ich auch ginge, sie würden mir überallhin folgen. Deshalb bleibe ich lieber, wo ich bin, und versuche, hier klarzukommen.«
»Es überrascht mich etwas, das von Ihnen zu hören.« Samuel zog die Augenbrauen hoch. »Als wir uns kennengelernt haben, sagten Sie, Sie hätten eine sehr schöne Kindheit gehabt. Oder habe ich da was falsch verstanden?«
»Es gibt noch eine zweite Seite meines Lebens, von der ich Ihnen bisher noch nichts erzählt habe. Aber das verschieben wir lieber auf ein anderes Mal«, fügte sie lächelnd hinzu.
Samuel spürte instinktiv, dass ihm der Zugang zu diesem Teil ihres Wesens vorerst verschlossen
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