Missgeburt
bliebe. Deshalb beließ er es dabei, verständnisvoll zu nicken und sich im Stillen zu fragen, ob auch er so viel innere Stärke aufzubringen imstande wäre, sich mit den dunklen Seiten seiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Im Moment hatte er jedenfalls unleugbar Angst, dieser Frage nachzugehen.
15 DIE DUNKLE SEITE VON NORTH BEACH
D amit hätte ich nie gerechnet«, sagte Bernardi, als ihm Samuel von den Blutsbanden zwischen Sara und Octavio erzählte. »Glaubst du, Schwartz sah in dem Jungen eine solche Bedrohung, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihn aus dem Weg zu räumen?«
»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, meinte Samuel.
»Zumal am Ende ja auch der Zwerg dran glauben musste, selbst wenn du diesbezüglich noch deine Zweifel hast. Meiner Meinung nach deutet inzwischen alles darauf hin, dass es irgendetwas Wichtiges geben muss, was wir von Anfang an übersehen haben. Deshalb bin ich noch einmal alle einzelnen Punkte gründlich durchgegangen, seit ich in Juarez mit Sara gesprochen habe.«
»Wann kommt Sara nach San Francisco zurück? Ich würde gern mit ihr sprechen.«
»Sie sollte spätestens in einer Woche wieder hier sein. In der Zwischenzeit werde ich mich mal in North Beach umhören.«
»Warum ausgerechnet dort?«, fragte Bernardi.
»Weil mir Dominique erzählt hat, dass der Reverend viel in Beatnik-Kreisen verkehrt ist, und deren Treffs finden sich überwiegend in North Beach. Wenn es mir gelingt, herauszufinden, wo sich der Zwerg hauptsächlich herumgetrieben hat, bekomme ich vielleicht auch heraus, wer auf der letzten Party war.«
Auf Melbas Rat ging Samuel als Erstes ins Vesuvio’s, das an der Columbus Avenue ein paar Schritte neben dem City Lights Book Store des Dichters Lawrence Ferlinghetti lag. Es war eine laute und unkonventionelle Künstlerkneipe, in der es nach der typischen North-Beach-Mischung aus Zigaretten, Marihuana, Espresso und billigem Rotwein roch. Das Publikum reichte von weinseligen Beatniks bis zu snobistischen Bücherwürmern, die nie auf die Idee gekommen wären, dort einen Drink zu nehmen, ohne dabei nicht auch die Nase in ihre jüngsten Neuerwerbungen aus der Buchhandlung nebenan zu stecken. Ein Mann mit Baskenmütze und zerzaustem Bart las Shakespeare, seine Begleiterin, eine Frau mit langem braunem Haar, war in ein Comic vertieft und rauchte einen Joint.
Samuel spendierte dem Barkeeper ein paar Drinks und verstrickte ihn so lange in typischen San-Francisco-Smalltalk, bis beide ziemlich betrunken waren. Dann legte er das Foto von Dusty Schwartz auf den Tresen, das Bernardi ihm gegeben hatte. »Kommt Ihnen dieses Gesicht bekannt vor?«
Der Barkeeper sah kurz auf das Foto, dann dachte er, weiter seine Gläser polierend, eine Weile nach. »Ich gebe prinzipiell keine Informationen über meine Gäste heraus«, sagte er schließlich. »Aber weil ich weiß, dass Sie kein Cop sind, und da der Zwerg tot ist, will ich Ihnen ausnahmsweise helfen. Ich mochte den kleinen Kerl; hat beim Trinkgeld nie geknausert und war viel mit Big Daddy Nord zusammen, als der noch das Hungry I betrieb. Die beiden gaben ein richtig skurriles Paar ab, Big Daddy ist ja gut und gern seine zwei Meter groß. Aber dann musste Big Daddy die Stadt verlassen, weil er was mit einer Minderjährigen hatte, und das Hungry I übernahm daraufhin Enrico Banducci. Deshalb verkehrte der Zwerg danach hauptsächlich in Homo-Bars wie dem Black Cat unten in der Montgomery.«
»Tatsächlich? Wollen Sie damit sagen …?«
»Ich sage überhaupt nichts«, antwortete der Barkeeper schroff und hielt Samuel erst einmal einen Vortrag, dass die Inhaber
der Schwulenbars die Polizisten im Viertel früher schmieren mussten, weil es in Kalifornien bis zu einem Gerichtsurteil im Jahr 1951 verboten war, an Homosexuelle Alkohol auszuschenken. »Aber danach rief der Staat das Department of Alcoholic Beverage Control ins Leben und setzte sich damit mehr oder weniger über die Entscheidung des Gerichts hinweg. Deshalb hieß es von da an wieder: Entweder du schmierst die Cops, oder du kannst deinen Laden dichtmachen.«
Samuel schüttelte den Kopf. »Hört sich so an, als müssten diese Leute einiges an Schikanen über sich ergehen lassen.«
»Das können Sie laut sagen. Aber die Schwulen sind ein cleveres Völkchen; sie finden immer einen Weg, um die rechtlichen Restriktionen zu umgehen. Da fragt man sich schon, warum diese Idioten in der Regierung sie nicht endlich in Ruhe lassen. Irgendwann müssten doch
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