Missing Link
Grund war, es erinnerte ihn daran, unter welcher Spannung ein großer Teil ihrer Beziehung gestanden hatte. Er brauchte eine Viertelstunde, um sie davon zu überzeugen, dass er sich nicht so lange ausruhen müsse, wie sie dachte. Da Jack chronisch unter Schlaflosigkeit litt, wusste er, dass er ohnehin nur zu einem Nickerchen fähig sein würde, und das Geländezelt war genau richtig dafür. Für ihn war es fast unmöglich, seine Gedanken auszublenden - besonders wenn die Dunkelheit den größten Teil der Wahrnehmung ausschaltete.
Nach allem, was sein Gehirn in den letzten achtundvierzig Stunden durchflutet hatte, beunruhigte ihn besonders eine Sache, was das Artefakt betraf.
Irgendwie ... kam es ihm bekannt vor.
Jack öffnete sein abgenutztes, in Leder gebundenes Notizbuch, das ihn schon rund um den Globus begleitet hatte. Er blätterte zum Ende und brachte einen neuen Eintrag mit den Daten und Koordinaten der letzten GPS-Messung zu Papier. Danach schrieb er Samanthas Namen, kramte aus seiner verschlissenen Reisetasche ein paar Farbstifte heraus und begann das Artefakt zu zeichnen.
Er hatte bei seinen zeichnerischen Übertragungen ziemliche Fähigkeiten entwickelt, und manch einer hielt ihn für einen
Künstler. Schon in seiner Kindheit hatte er gern gezeichnet, besonders Skelette an Halloween. Jack fragte sich, ob dies bereits die ersten Hinweise auf den späteren Mann gewesen waren. Die Faszination eines kleinen Jungen für Halloween und Skelette - waren sie die keimenden Zeichen für seine zukünftige Karriere als Paläanthropologe? Jack hatte erst vor kurzem ein Buch von Dr. Rupert Sheldrake zu Ende gelesen, das ihn tief beeindruckte. Es forderte die Grundannahmen der modernen Wissenschaft heraus - weswegen Jack es so packend fand.
Sheldrakes These war, dass alle natürlichen Systeme, von den Kristallen bis zur menschlichen Gesellschaft, ein kollektives Gedächtnis erben, das ihre Form und ihr Verhalten beeinflusst. Was Wissenschaftler bei Tieren »Instinkt« nennen, sei nicht chemisch oder biologisch an ein Tier gebunden, schrieb Sheldrake. Es sei die Gegenwart der Vergangenheit, das Gedächtnis aller anderen Tiere derselben Spezies, aus dem dieses eine Wesen genährt wird.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Energieübertragung von einem System zu einem anderen, sondern vielmehr um eine nicht-energetische Übertragung von Information, weswegen sie sich mit Hilfe der konventionellen Physik schwer nachweisen lässt. Alle Vorfahren einer Spezies bilden ein kollektives Gedächtnis, das von dem einzelnen Wesen in der Gegenwart geerbt wird. Es hilft bei der Entwicklung des Verhaltens und selbst der physischen Form.
Sheldrake wurde von unterschiedlichen Seiten unterstützt. Wilder Penfield, der große Neurophysiologe und einer der bedeutenden Führer auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung, hatte die Welt davon überzeugt, dass sich das menschliche Gedächtnis in Form von »Gedächtnisspuren« irgendwo im Gehirn wiederfinden lasse. Zehn Jahre nach seiner berühmten These von 1951 widerrief er alles und behauptete, die Idee, das Gedächtnis müsse sich physikalisch auf der von ihm bezeichneten »Gedächtnisrinde« lokalisieren lassen, sei falsch.
Könnte es sein, fragte sich Jack, dass das Gedächtnis gar nicht im menschlichen Geist gespeichert wird? Könnte das Gedächtnis in einer parallelen Dimension existieren, einer, die nichts mit den physikalischen Eigenschaften gemeinsam hat? Könnte die Vergangenheit einen direkten Einfluss auf die Gegenwart ausüben? Auch wenn der Gedanke begrifflich schwer zu fassen ist, erklärt er doch, wie sich bestimmte Verhaltensmuster in Tieren entwickeln. Er erklärt, warum Menschen zur selben Zeit dieselben Ideen haben, warum Jacks spätere Berufswahl als Paläanthropologe schon während seiner Kindheit von seiner Faszination für Skelette beeinflusst wurde. Kein Wunder, dass es so schwer ist, sich von der Vergangenheit fortzubewegen, dachte Jack. Die Vergangenheit - emotional - zu begraben tut weh, weil es die Vergangenheit jetzt gibt und sie mit uns so stark mitschwingt wie die Gegenwart, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Psychologen wissen schon seit langem, wie sich emotionale Wunden in Kindern anhaltend auf den Erwachsenen auswirken können. Aber mit Sheldrakes These lässt sich erklären, warum es so schwierig ist, diese Wunden zu heilen.
Während Jack das Artefakt zeichnete und sich die seltsamen Symbole entlang der Seiten genauer ansah, hatte er
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