Missing Link
beobachtender Wachposten stand. Er fragte sich, welche Kräfte dazu beigetragen hatten, das es so weit von seiner richtigen Position geflogen war. »Es muss eine höllische Katastrophe gewesen sein«, meinte Ricardo.
Entlang der Mauer der Westreihe traten Dorn und Baines vorsichtig über die Seile, die von der Mitte des provisorischen Tors aus zu Pfählen an der Seite der Einfassung gelegt worden waren. »Unsere Männer werden diese Trümmerstätte in weniger als sechs Stunden erreicht haben«, verkündete Baines und zog heftig an seiner Zigarette.
»Gut. Lass sie so viel von der Ausrüstung herschaffen, wie sie können - ohne dass sie die Waffen zurücklassen, die ich angefordert habe«, ordnete Dorn an. Er sah zum Lager hinüber, wo die Bolivianer immer noch mit dem Aufbau der Zelte beschäftigt waren, bevor er seinen Blick zu dem sich wellenden Segeltuch-Provisiorium in der Mitte der Einfassung wandern ließ. »Wenn wir tatsächlich etwas finden, sollten wir darauf vorbereitet sein, es um jeden Preis in die Hände zu bekommen«, sagte er. »Ich traue den Bolivianern nicht - übrigens genauso wenig wie diesem Jack.«
Baines nickte. Funken sprühend flog der fortgeschnippte Zigarettenstummel über den felsigen Boden.
Über die gezackte Gebirgskette lugte der Rand einer goldenen Scheibe, die das Tal bald in ihr Licht tauchen würde. In weniger als zwanzig Minuten würde die Sonne ihre Strahlen auf Tiahuanaco werfen - und Jacks Annahmen auf die Probe stellen. Die feuchte Luft war von Vorfreude erfüllt. Neben dem Provisorium wickelten Samantha und Ricardo einen Draht um einen der Pfähle, während Jack den rosa gefärbten Horizont beobachtete und hektisch irgendwelche Zahlen in seinem Kopf überprüfte. Samantha hielt inne und warf einen Blick auf Jack. Sie war besorgt - über das Ergebnis ihrer Bemühungen. Besorgt, weil Jack so viel auf diese Annahme setze. Ihr Atem konnte gar nicht schnell genug gehen. Sie betete, dass er Recht haben möge, erfüllt von Angst, was ein Fehlschlag mit ihm anrichten könnte, und dankbar, dass der Himmel nicht bedeckt war. Wenigstens die Sonne war auf ihrer Seite.
»Brauchst du noch irgendwas?«, fragte Samantha. Sie hatten beim Wettlauf mit dem Sonnenaufgang ziemlich kämpfen müssen.
»Das ist alles«, sagte Jack. »Jetzt warten wir.«
Die Sonne erhob sich genau über den mittleren Pfeilern der Westreihe. Voller Ehrfurcht beobachtete die Gruppe mit blinzelnden Augen, wie die starken Morgenstrahlen alles in rosa Licht tauchten. Dorn setzte seine Sonnenbrille auf. Alle erwarteten, dass die Erde bebte - dass die Erde sich öffnete.
Sie tat es nicht.
Eigentlich beobachteten sie fast eine viertel Stunde lang nur, wie die Scheibe ihre Farbe wechselte und sich langsam in den dünnen Himmel über den Anden erhob. Aber sie konnten keinerlei Schattenmarkierung feststellen, abgesehen von den verzerrten Wellen hinter ihrem Provisorium - einem Schatten, den auch Jack für bedeutungslos hielt. Die Genauigkeit, mit der Jack die beiden Hauptpfeiler umrahmt hatte, ließen hinsichtlich des Zwecks des Tempels keinen Zweifel. Der gesamte Komplex war zur Messung der Frühlings-Tagundnachtgleiche errichtet worden. Doch offenbar war Jacks Theorie, dass das Tor als Schattenmarkierer gedient hatte, falsch.
Jack fing an zu schwitzen. Was fehlte denn noch? »Ich werde das Sonnentor noch einmal überprüfen«, sagte er. »Es muss doch einen Anhaltspunkt geben.«
»Wir haben nicht viel Zeit«, wandte Ricardo ein.
»Ich weiß«, erwiderte Jack.
Er rannte zum Tor, war aber nicht mal vierzig Meter weit gekommen, als Ricardos Stimme über die kahle Landschaft hallte. Jack drehte sich um. Samantha und Ricardo zeigten auf etwas hinter sich, etwas, das Jack nicht sehen konnte. Das Sonnenlicht wurde vom Boden wie von einem Spiegel reflektiert. Jack eilte zurück, den anderen hinterher, die in die entgegengesetzte Richtung des Provisoriums rannten.
Warum rannten sie weg?
Jack legte einen Sprint hin, vorbei am Provisorium, in dessen unmittelbarer Nähe jedenfalls kein Schatten geworfen wurde. Als er Ricardo und die übrigen endlich am jenseitigen Ende der Einfassung eingeholt hatte, konnte er kaum atmen und noch weniger sprechen.
Es war auch nicht nötig.
Unter ihnen, fünfzig Meter von Kalasasaya entfernt, wuchs in der Mitte des unterirdischen Tempels, genau hinter dem »Tempel der aufrecht stehenden Steine«, ein eindeutig erkennbarer Schatten. Jack blickte zum Tor zurück, wo das obere Teil die Sonne
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