Missing Link
kunstvollen Gravuren ignorierend, die den Behälter seitlich schmückten.
Das kann doch nicht sein ...
Jack hielt sich am Rand des Steinblocks fest; plötzlich hatte er das Gefühl, als würde er ohnmächtig werden.
Aus dem Behälter starrte ihn ein graues Gesicht aus hohlen, eingesunkenen Augen an.
Sarkophag
Jack wurde schwarz vor Augen. Für einen Moment floss das Blut aus seinem Gehirn - oder strömte hinein, er war sich nicht sicher. Dadurch hatte er das Gefühl, dass sein Kopf nicht mehr mit seinem Körper verbunden und in Gefahr war, davonzutreiben.
»Es ist dieselbe Spezies wie unser Fossil«, stotterte Samantha.
»Aber . mumifiziert«, brachte Jack heraus.
Die Gestalt vor ihnen - mit ihren engelsgleichen Augen, die seit langem geschlossen waren, ihren vier Fingern, ihrer grauen, eingefallenen und runzlig gewordenen Haut, die sich eng um das unversehrte Skelett spannte - war ein Leichnam, ein tatsächlicher Körper. Die Vorstellung flutete wie Kältewellen durch Jack. Schon das Fossil aus Mali war ein unglaublicher Anblick gewesen. Aber dies hier ließ alles zur Wirklichkeit werden.
Die Gestalt vor ihnen war kein Haufen versteinerter Knochen - einer, der auf Seiten der Anthropologen und Künstler Anlass zu wilden Spekulationen über das Aussehen der Spezies geben würde. Dieser Körper, der mit gekreuzten Armen in seinem Sarkophag lag, ließ keinen Raum für Irrtümer, für Hypothesen über die Struktur der Haut, über die Haare oder den Körperbau. Eine lange, ausgebleichte Robe bedeckte den größten Teil des Körpers; ihre Säume waren fein mit Goldfäden bestickt.
Es waren keine Mumienbänder verwendet worden, genauso wenig wie gesättigte Lösungen. Doch irgendetwas hatte den prächtigen Körper fast perfekt erhalten. Jacks zitternde Hand fuhr über das große Gesicht. Obwohl die Haut völlig ausgetrocknet war und fest an den Schädelknochen haftete, war die Mumifizierung von einer Qualität, die über diejenige ägyptischer Standards weit hinausreichte. Das Gesicht hatte nichts Furcht Erregendes, es sah friedvoll aus. Jack wagte es, dass lange silberweiße Haar zu berührten, das sich noch an dem großen Kopf befand.
Samanthas glitzernde Augen trafen die von Jack.
»Sie hatten Haare«, sagte sie gerührt. Eine kleine Träne lief über Jacks Wange. Sie floss um seinen kräftigen Kiefer herum und blieb einen Augenblick an seinem Kinn hängen, ehe sie auf der vierfingrigen Hand landete. Sein Bild von kahlköpfigen Außerirdischen verschwand. Das waren keine haarlosen Kreaturen, näher verwandt mit den Insekten als den Menschen. Das hier war etwas ausgesprochen Menschliches. Etwas mit Bart. Etwas, das einen Haarschnitt brauchte und sich kämmen musste. Etwas Menschenähnlicheres als der Neandertaler.
Die Gestalt vor ihnen schien unerklärlicherweise zur Familie zu gehören. Die vier Finger, die großen Augen und der übergroße Kopf wirkten ungewöhnlich, aber wenn man davon und von seiner Körpergröße, die bei über ein Meter neunzig liegen musste, absah, hätte man ihn für einen groß gewachsenen Mann halten können.
Wie bei einem Schausarg bei einer Beerdigung konnte man mit dem Toten in dem geöffneten Sarkophag Kontakt aufnehmen. Der Anblick erzeugte in Jack eine unbegreifliche Verbundenheit, das instinktive, schockierende Empfinden, dass er einem entfernten Verwandten die letzte Ehre erwies. Er verspürte Mitgefühl für den Toten. Ein gänzlich anderes Gefühl als bei der Beobachtung eines Schimpansen, bei dem man merkt, dass er Hände, Füße, Ohren und eine Brust hat und sich manchmal wie ein Mensch verhält. Eine vollkommen andere Erfahrung als diejenige, wenn er die künstlerische Darstellung eines rasierten, geduschten und mit einem Dreiteiler bekleideten Neandertalers betrachtete - diejenige, die Anthropologen so bekannt machten, solange sie noch darüber diskutierten, wie nahe verwandt die beiden Spezies eigentlich miteinander seien. Das heißt, bis die neuesten genetischen Untersuchungen jede Familienverwandtschaft ausschloss.
Der Anblick des vollständigen Körpers mit Barthaaren und langen, fließenden Locken machte die Existenz außerirdischen Lebens zu einer persönlichen Erfahrung; viel persönlicher als die Beweise, die sie in Mali gefunden hatten.
»Könnten das deine Leuchtenden sein?«, fragte Samantha schließlich.
Jack versuchte zu antworten, aber sein Kehlkopf hatte sich zu einem festen, trockenen Knoten zusammengeballt.
Dorn blickte verwirrt drein.
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