Mission Walhalla
hatte ich keine große Lust, dem französischen Geheimdienst von meinen Sorgen zu erzählen. Ich war nicht gerade scharf auf eine frühzeitige Rückkehr ins La Santé oder in eines der fünf anderen Gefängnisse, die ich seit meiner Abreise aus Havanna von innen gesehen hatte. Und ich beruhigte mich mit der Hoffnung, dass die Franzosen mich schon beschützen würden, komme, was da wolle, solange sie in mir ihre beste Chance sahen, Edgard de Boudel zu identifizieren und zu schnappen.
Dass ich nie jemandem namens Edgard de Boudel begegnet war und auch nie von ihm gehört hatte, war völlig nebensächlich. Ich tat genau das, was mir die Amerikaner in Landsberg aufgetragen hatten. Und als ich wieder in meinem Zimmer in der Pension Esebeck in Göttingen war, schrieb ich meinen CIA -Führungsoffizieren einen Brief, in dem ich detailliert meine Fortschritte schilderte: wie gebannt die Franzosen zugehört hatten, als ich ihnen von de Boudel erzählt hatte, während ich gleichzeitig außerdem über Erich Mielke ausgepackt hatte, und dass sie offenbar jedes Wort glaubten, das ich ihnen über Mielke erzählt hatte – obwohl es kompletter Schwachsinn war. Aber ich machte mich dadurch glaubwürdig, dass alles, was ich ihnen über Edgard de Boudel sagte, der Wahrheit entsprach. Scheuer nannte dieses Verfahren «der schöne Zwilling». Die Franzosen – und was noch wichtiger war, der sowjetische Agent, von dem die Amerikaner wussten, dass er im Zentrum des SDECE in Paris saß – würden meine Lügen und Falschdarstellungen in Sachen Mielke eher glauben, wenn sich alles, was ich ihnen über de Boudel erzählte, mit dem deckte, was sie über ihn wussten oder vermuteten. Und das Sahnehäubchen auf dem ohnehin schon fetten Kuchen war der Hinweis (den sie von den Briten bekommen hatten, die ihn natürlich wiederum von den Amerikanern hatten), dass Edgard de Boudel als heimkehrender Kriegsgefangener auf dem Weg zurück nach Deutschland war, weil er den Russen in Indochina nichts mehr nutzte. Dort hatte er als politischer Kommissar den Viet-Minh bei den Verhören und Folterungen von in Gefangenschaft geratenen französischen Soldaten geholfen. Die meisten von ihnen verblieben bis zum Abschluss der Genfer Verhandlungen als Kriegsgefangene in Indochina. Ich musste lediglich de Boudel identifizieren, dann würden die Franzosen mich und meine Informationen über Mielke für bare Münze nehmen. Zu diesem Zweck hatte ich vor meiner «Abschiebung» von Landsberg nach Paris die wenigen verfügbaren Fotos von de Boudel genauestens studiert. Diese beiden Fotos sowie meine persönlichen Erfahrungen als deutscher Kriegsgefangener – ganz zu schweigen von meiner Berufserfahrung als Kriminalkommissar – würden es mir hoffentlich ermöglichen, ihn für die Franzosen zu erkennen. Danach würden sie mich dann für alle Zeit als zuverlässige Geheimdienstinformationsquelle betrachten. Edgard de Boudel war nämlich einer der meistgesuchten Männer in Frankreich.
Natürlich machte ich mir Gedanken darüber, was mit mir geschehen würde, falls ich de Boudel nicht identifizieren konnte. Daher brachte ich auch das in meinem Brief zur Sprache, indem ich meine Befürchtung erwähnte, er könnte mehr als nur seinen Namen und seine Identität geändert haben, falls die Russen, wie es die Amerikaner vermuteten, vorhatten, ihn wieder in die westdeutsche Gesellschaft einzuschleusen, um ihn irgendwann später als Agenten zu reaktivieren. Falls de Boudel sein Aussehen chirurgisch hatte verändern lassen, waren meine Chancen, ihn wiederzuerkennen, verschwindend gering. Ich erwähnte außerdem, was inzwischen auf der Hand lag: dass jeder meiner Schritte genauestens beobachtet wurde.
Als ich den Brief fertig hatte, ging ich ins Wohnzimmer, um mit Vigée zu sprechen, der als SDECE -Offizier die Göttinger Operation leitete.
«Ich hab eine Bitte», sagte ich. «Ich möchte in die Kirche gehen.»
«Ich wusste gar nicht, dass Sie religiös sind», sagte er.
«Hätte ich das denn anmelden müssen? Hören Sie, ich will weder in den Gottesdienst noch zur Beichte. Ich will bloß ein Weilchen in der Kirche sitzen und beten.»
«Was sind Sie denn? Katholisch oder evangelisch?»
«Evangelisch-lutherisch», erwiderte ich. «Ach ja, und ich möchte mir Kaugummi kaufen. Damit ich nicht so viel rauche.»
«Da», sagte er und gab mir eine Packung Hollywood-Kaugummi. «Ich hab dasselbe Problem.»
Ich steckte mir einen von den grünen Chlorophyll-Streifen in den
Weitere Kostenlose Bücher