Mission Walhalla
Mund.
«Gibt es hier in der Nähe eine evangelisch-lutherische Kirche?», fragte er.
«Wir sind hier in Göttingen», sagte ich. «Da wird es einige geben.»
Die St.-Jacobi-Kirche bot einen seltsamen, ja exzentrischen Anblick. Der Gebäudekörper, erbaut aus schönem rosa Stein mit Strebepfeilern in einem dunkleren Rosa, sah nicht besonders ungewöhnlich aus. Der grüne Turm dagegen, der höchste in Göttingen, bot einen Anblick, der alles andere als alltäglich war. Es war, als hätte ein fauler Hans eine Handvoll Zauberbohnen auf den Boden der Kirche geworfen, aus denen dann blitzschnell eine Ranke in den Himmel gewachsen war, die sich durch das schlichte Kirchendach gebohrt hatte. Vielleicht gab es in ganz Deutschland kein besseres Sinnbild für den Nationalsozialismus.
Das Kircheninnere mutete nicht weniger märchenhaft an. Wenn man die bonbonbunt gestreiften Pfeiler sah, wollte man am liebsten dran lecken oder ein Stück von dem mittelalterlichen dreiflügeligen Altar abbrechen und essen.
Ich setzte mich in die vorderste Reihe, neigte den Kopf vor den Göttern Deutschlands, die ihr Land längst vergessen hatten, und tat so, als würde ich beten. Ich hatte nämlich schon mal gebetet und wusste daher auch genau, was ich davon zu erwarten hatte: nichts.
Nach einer Weile blickte ich mich um, und als ich sah, dass Vigée abgelenkt war, weil er die Kirche bestaunte, klebte ich den Brief an meine CIA -Führungsoffiziere mit meinem Hollywood-Kaugummi unter die Bank, auf der ich saß. Dann stand ich auf und schritt langsam zur Tür. Ich wartete geduldig, bis Vigée mir folgte, und wir traten nach draußen auf die Märchenstraßen.
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Kapitel 31 DEUTSCHLAND 1954
In der Pension Esebeck ging es beschaulich zu, und außer essen und Zeitung lesen gab es nicht viel zu tun. Die einzige Zeitung, die mich interessierte, war
Die Welt
, wegen der Kleinanzeigen im hinteren Teil, und an meinem zweiten Morgen in Göttingen fand ich die Nachricht, auf die ich gewartet hatte. Sie war an FELDGRAU gerichtet und bestand aus Versen aus dem Lukasevangelium, und zwar 1:44, 49; 2:3; 6:1; 1:40; 1:37 und 1:74.
Ich holte eine Bibel aus dem Regal im Wohnzimmer und ging damit auf mein Zimmer, wo ich die betreffenden Abschnitte heraussuchte. Sie ergaben Folgendes:
Siehe, da ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte mit Freuden das Kind in meinem Leibe; denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und des Name heilig ist.
Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.
Und es begab sich an einem Sabbat, dass er durchs Getreide ging; und seine Jünger rauften Ähren aus und aßen und rieben sie mit den Händen.
und kam in das Haus des Zacharias und grüßte Elisabeth.
Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.
dass wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang.
Ich verbrannte den Zettel, auf dem ich die Textstellen notiert hatte, und machte mich auf die Suche nach Vigée. Ich fand den Franzosen in einem kleinen ummauerten Garten mit Blick auf den Kanal. Wie immer sah er aus, als hätte er in der Nacht keine Sekunde geschlafen. Er hatte die Augen gegen den Rauch von seiner Zigarette zusammengekniffen, und in der hohlen Hand hielt er eine kleine Tasse Kaffee. Er betrachtete mich mit der für ihn typischen gleichgültigen Miene, doch wie immer, wenn er sprach, betonte er seine Worte gern mit einem entschlossenen Kopfnicken oder -schütteln.
«Haben Sie Ihren Frieden mit Gott gemacht, ja?» Sein Deutsch war stockend, aber grammatikalisch korrekt.
«Ich brauchte etwas Zeit zum Nachdenken», sagte ich. «Über etwas, was in Berlin passiert ist. Am Sonntag.»
«Mit Elisabeth, ja?»
«Sie will heiraten», sagte ich. «Mich.»
Er zuckte die Achseln. «Glückwunsch, Sébastien.»
«Bald.»
«Wie bald?»
«Sie hat fünf Jahre auf mich gewartet, Emile. Und jetzt, wo wir uns wiedergesehen haben … na ja, da will sie ungern noch länger warten. Kurz gesagt, sie hat mir ein Ultimatum gestellt. Wenn ich sie nicht vor dem Wochenende heirate, wird sie nichts mehr von mir wissen wollen.»
«Unmöglich», sagte Vigée.
«Das hab ich auch gesagt. Aber sie ist nicht umzustimmen. Ganz sicher. Ich kenne sie gut. Was diese Frau sagt, meint sie ernst.» Ich nahm mir eine Zigarette aus der Packung, die er mir hinhielt.
«Das ist nicht sehr nett», sagte er.
«So sind die Frauen», sagte ich. «Aber ich will es auch.
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