Mission Walhalla
Mielkes Ziel, den Bülowplatz, wo sich die Berliner Parteizentrale der KPD befand. Auf dem polizeilich meistbewachten Platz in Europa nahm das Karl-Liebknecht-Haus, in dem auch die Redaktion der
Roten Fahne
untergebracht war, eine ganze Ecke ein. Es hielt jedem in grellen Farben vor Augen, wie alle Gebäude aussehen würden, falls die Linken je an die Macht kämen: Sämtliche fünf Geschosse waren mit mehr roten Fahnen drapiert als ein Strand mit einer Hai-Plage, und reißerische Parolen erstreckten sich in dicken weißen Lettern über die gesamte Fassade. Wenn Architektur wirklich gefrorene Musik ist, dann war das hier eine halb aufgetaute Lotte Lenya, die ein Lied vom bevorstehenden Tod trällerte, ohne dass man sich traute, nach dem Warum zu fragen.
Mielke rutschte auf dem Beifahrersitz tiefer, als wir auf den Platz fuhren. Er sagte: «Lassen Sie mich ein Stück weiter drüben raus, an der Linienstraße um die Ecke. Falls mich irgendwer hier aus Ihrem Wagen steigen sieht, denkt er noch, ich wäre ein Spion.»
«Nur die Ruhe», sagte ich. «Ich bin in Zivil.»
Er lachte. «Glauben Sie etwa, das wird Sie retten, wenn die Revolution kommt?»
«Nein, aber es könnte Sie heute Nachmittag retten.»
«Na gut, Herr Kommissar. Ich will wirklich nicht undankbar wirken, aber ich bin es einfach nicht gewohnt, von einem Berliner Bullen anständig behandelt zu werden. Ich bin eher an Polypen wie Schweinebacke gewöhnt.»
«Schweinbacke?»
«Die Drecksau Anlauf.»
Ich nickte. In der gesamten Berliner Polizei gab es niemanden, der bei Kommunisten verhasster war als Schupohauptmann Paul Anlauf.
Ich hielt in der Weydingerstraße und wartete, um Mielke aussteigen zu lassen.
«Danke noch mal. Das werde ich Ihnen nicht vergessen.»
«Bleiben Sie sauber, ja?»
«Sie auch.»
Dann küsste er die Brünette auf die Wange, und weg war er. Ich zündete mir eine Zigarette an und sah ihm nach, wie er zurück zum Bülowplatz ging und in der Menschenmenge verschwand.
«Ärgern Sie sich nicht über ihn», sagte die Brünette. «Er ist im Grunde kein schlechter Kerl.»
«Ich ärgere mich weniger über ihn als er sich anscheinend über mich», sagte ich.
«Na denn», sagte sie. «Danke fürs Mitnehmen. Ich steige auch hier aus.»
Sie trug ein auffällig gemustertes Perkalkleid mit herzförmigen Knöpfen bis zur Taille, Spitzenkragen und niedlichen Puffärmeln. Das Muster war ein Wirrwarr von roten und weißen Früchten und Blumen auf tiefschwarzem Grund. Sie sah aus wie ein Obstgarten, über den die Nacht hereingebrochen war. Auf ihrem Kopf thronte ein kleiner weißer Filzhut mit einer roten Seidenschleife wie an einem Geburtstagsgeschenk. Vielleicht meins. Denn ich hatte ja tatsächlich Geburtstag. Der Schweißgeruch, den sie verströmte, hatte was Bodenständiges an sich und reizte mich mehr als irgendein teures süßliches Parfüm. In diesem Obstgartenkleid steckte eine Frau aus Fleisch und Blut, mit Organen und Drüsen und all den anderen Dingen, die ich an Frauen mochte und schon fast vergessen hatte. Es war nämlich einer der ersten Tage im Jahr, an denen Frauen wie Elisabeth wieder Sommerkleider trugen, und ich musste daran denken, was für einen langen Berliner Winter wir hinter uns hatten und dass ich ihn in meiner Höhle verschlafen hatte, allein mit meinen Träumen.
«Trinken Sie ein Glas mit mir?», fragte ich.
Sie schien ja sagen zu wollen, aber nur für einen Moment. «Das würde ich gern, aber ich muss wirklich zurück in die Schneiderei.»
«Ach, kommen Sie. Es ist ein schöner Tag, und ich brauch ein Bier. Ein Tag in dieser Hitze macht durstig. Vor allem, wenn man Geburtstag hat. Sie wollen doch bestimmt nicht, dass ich an meinem Geburtstag allein trinken muss, oder?»
«Nein. Wenn Sie wirklich Geburtstag haben.»
«Wenn ich Ihnen meinen Ausweis zeige, kommen Sie dann mit?»
«Also schön.»
Also zeigte ich ihn ihr. Und sie kam mit. Wir ließen mein Auto stehen und gingen ins Braustübl, gleich neben der Polizeiwache am Bülowplatz.
Hier wimmelte es natürlich von Kommunisten, aber die interessierten mich ebenso wenig wie Erich Mielke, über den Elisabeth noch eine ganze Zeit lang sprach. Dabei beobachtete ich, wie ihre roten Lippen sich öffneten und schlossen und weiße Zähne dahinter hervorblitzten. Vor allem fand ich den Klang ihres Lachens hinreißend. Meine Scherze schienen ihr zu gefallen, und das war offenbar entscheidend, denn als wir uns verabschiedeten, erklärte sie sich bereit, mich
Weitere Kostenlose Bücher