Mission Walhalla
würde, doch diesmal rührte ich mich nicht vom Fleck.
«Was ist los?», fragte sie. «Ist was passiert?»
«Es geht um Erich», sagte ich. «Er steckt in Schwierigkeiten.»
«Was für Schwierigkeiten?»
«Große Schwierigkeiten. Gestern Abend wurden zwei Polizisten erschossen.»
«Und du glaubst, Erich hat was damit zu tun?»
«Es sieht ganz danach aus.»
«Bist du sicher?»
«Ja. Hör zu, Elisabeth, ich hab nicht viel Zeit. Es wäre am besten für ihn, wenn ich ihn fände, ehe es jemand anders tut. Ich kann ihm erklären, was er sagen soll und, noch wichtiger, was er nicht sagen soll. Verstehst du das?»
Sie nickte und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
«Und was willst du von mir?»
«Eine Adresse.»
«Heißt das, ich soll ihn verraten?»
«Könnte man so sehen. Aber eine andere Sichtweise ist die, dass ich ihn vielleicht überreden kann, ein umfassendes Geständnis abzulegen. Vielleicht seine einzige Chance, am Leben zu bleiben.»
«Sie würden ihn doch nicht töten, oder?»
«Für den Mord an einem Polizisten? Doch, ich glaube, damit ist zu rechnen. Einer der ermordeten Schupos war Witwer, und seine Kinder sind jetzt Vollwaisen. Die Republik wird gar keine andere Wahl haben, als ein Exempel zu statuieren, sonst würden die Zeitungen einen Sturm der Entrüstung entfachen. Und das würde den Nazis nur in die Hände spielen. Aber wenn
ich
es wäre, der ihn festnimmt, kann ich ihn vielleicht dazu überreden, uns Namen zu nennen. Falls andere in der KPD ihn angestiftet haben, kann man das zu seinen Gunsten auslegen. Seine Verteidigung könnte vorbringen, dass er jung und leicht zu beeinflussen ist.»
Sie verzog das Gesicht. «Verlang nicht von mir, ihn zu verraten, Bernie. Ich kenne den Jungen schon fast sein ganzes Leben. Ich hab geholfen, ihn großzuziehen.»
«Ich bitte dich trotzdem darum. Ich gebe dir mein Wort, dass ich für ihn tun werde, was ich kann, und mich vor Gericht für ihn einsetze. Alles, was ich dazu von dir brauche, ist eine Adresse, Elisabeth.»
Sie ließ sich in einen Sessel sinken, faltete fest die Hände und schloss die Augen, als spreche sie ein stummes Stoßgebet. Vielleicht tat sie das ja.
«Ich habe immer befürchtet, dass so was passieren würde», sagte sie. «Deshalb hab ich ihm auch nie von uns beiden erzählt. Das hätte er mir übelgenommen. Zu Recht, wie man jetzt sieht.»
«Ich werde ihm nicht sagen, dass ich die Adresse von dir habe, falls du dir deshalb Sorgen machst.»
«Deshalb mach ich mir keine Sorgen», flüsterte sie.
«Weshalb dann?»
Sie stand unvermittelt auf. «Ich mache mir natürlich Sorgen um Erich», sagte sie laut. «Ich habe Angst davor, was mit ihm wird.»
Ich nickte und erhob mich ebenfalls. «Na schön, vergiss die Sache. Dann müssen wir eben einen anderen Weg finden. Tut mir leid, dass ich dich damit belastet habe.»
«Er wohnt bei seinem Vater Emil», sagte sie tonlos. «Stettiner Straße fünfundzwanzig, Hinterhof. Die oberste Wohnung.»
«Danke.»
Ich wartete ab, ob sie noch etwas sagen würde, und als nichts kam, ging ich einen Schritt auf sie zu und wollte ihre Hand zum Trost drücken, doch sie zog sie weg. Zugleich mied sie es, mir in die Augen zu sehen.
«Geh einfach», sagte sie. «Geh und tu deine Pflicht.»
Als ich vor ihrem Haus auf der Straße stand, brach ein neuer Tag an, zwischen Elisabeth und mir aber war etwas zu Ende gegangen, das spürte ich. Vielleicht für immer. Ich stieg wieder zu Heller in den Wagen und gab ihm die Anschrift weiter. Ich schätze, er sah mir am Gesicht an, dass er besser nicht fragen sollte, woher ich sie hatte.
Wir brausten in nördlicher Richtung über die Swinemünder Straße in die Bellermannstraße und bogen von dort in die Stettiner Straße. Wir suchten die Nummer fünfundzwanzig und fanden ein graues Mietshaus, das ohne die dicken Stützbalken vermutlich eingestürzt wäre. Im Hinterhof hing aus einem offenen Fenster ein grüner Teppich, der aussah wie ein großer Moos- oder Schimmelfleck und doch für das einzige Fitzelchen Farbe im ansonsten trostlosen und gottverlassenen Hof aus grobem Mauerwerk und losem Kopfsteinpflaster sorgte. Obwohl ein strahlender Sommermorgen heraufzog, hatten die unteren Hinterhofwohnungen der Stettiner Straße noch nie Sonnenlicht gesehen: Nosferatu hätte hier am helllichten Tag unbesorgt in die Dämmerwelt einer Erdgeschosswohnung abtauchen können.
Wir zogen etliche Minuten lang einen Glockenzug, bis sich ein grauhaariger Kopf aus einem dreckigen
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