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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Geschichte dieses Hauses und den Leuten zu fragen, die vor mir hier gewohnt hatten, aber es kam mir lächerlich vor, über solchen Unsinn auch nur nachzudenken. Ich beschloß, die ganze Sache zu vergessen. Der Regen fiel den ganzen Nachmittag mit derselben sanften Beharrlichkeit weiter und machte die Dächer der Häuser naß, machte die Bäume in den Gärten naß, machte die Erde naß. Ich aß zu Mittag Toast und eine Suppe und verbrachte den Rest des Nachmittags auf dem Sofa. Ich wäre gern einkaufen gegangen, aber der Gedanke an das Mal auf meinem Gesicht machte mich unsicher. Ich bedauerte, daß ich mir den Bart nicht hatte stehen lassen. Im Kühlschrank hatte ich noch Gemüse, und im Schrank waren ein paar Dosen. Ich hatte Reis, und ich hatte Eier.
    Wenn ich meine Ansprüche etwas herunterschraubte, hatte ich noch für zwei, drei Tage zu essen.
    Ich lag auf dem Sofa und dachte an gar nichts. Ich las ein Buch; ich hörte mir eine Kassette mit klassischer Musik an; ich starrte hinaus in den Regen, der auf den Garten fiel. Vielleicht infolge der langen Phase allzu konzentrierten Nachdenkens in der Dunkelheit des Brunnens schien meine zerebrale Leistungsfähigkeit ihren absoluten Tiefststand erreicht zu haben. Sobald ich versuchte, über irgend etwas ernsthaft nachzudenken, verspürte ich einen dumpfen Schmerz im Schädel, als würde mein Kopf zwischen den Backen eines gepolsterten Schraubstocks zusammengedrückt. Wenn ich versuchte, mich an irgend etwas zu erinnern, schien jeder Muskel und jeder Nerv in meinem Körper vor Anstrengung zu knirschen. Ich hatte das Gefühl, mich in den Blechmann aus dem Zauberer von Oz verwandelt zu haben: alle meine Gelenke waren verrostet und mußten dringend geölt werden.
    Ab und zu ging ich auf die Toilette und überprüfte den Zustand des Mals in meinem Gesicht, aber es blieb unverändert. Es war weder geschrumpft noch größer, dunkler oder blasser geworden. Irgendwann fiel mir auf, daß ich auf der Oberlippe noch ein paar Bartstoppeln hatte. Ich war über die Entdeckung des Mals auf meiner rechten Wange so verwirrt gewesen, daß ich vergessen hatte, mich zu Ende zu rasieren. Ich wusch mir noch einmal das Gesicht, trug Rasierschaum auf und entfernte die letzten Stoppeln.
    Im Laufe meiner gelegentlichen Wanderungen zum Spiegel dachte ich an das, was Malta Kano am Telefon gesagt hatte: daß ich vorsichtig sein sollte; daß wir uns angewöhnt hätten zu glauben, das Bild im Spiegel entspreche der Wirklichkeit. Um sicherzugehen, ging ich ins Schlafzimmer und betrachtete mein Gesicht in dem großen Spiegel, vor dem sich Kumiko immer anzog. Aber das Mal war noch da. Es wurde nicht etwa nur von dem anderen Spiegel vorgetäuscht. Abgesehen von dem Mal konnte ich keine körperliche Anomalie an mir feststellen. Ich maß meine Temperatur, aber sie war wie immer. Außer daß ich für jemanden, der fast drei Tage lang nichts gegessen hatte, recht wenig Hunger hatte und daß ich ab und zu eine leichte Übelkeit verspürte (wahrscheinlich die Fortsetzung derjenigen, die ich im Brunnen wahrgenommen hatte), war ich körperlich völlig in Ordnung.
    Der Nachmittag verging ruhig. Das Telefon klingelte kein einziges mal. Es kamen keine Briefe. Niemand kam die Gasse entlang. Keine Stimmen von Nachbarn störten die Stille. Keine Katzen durchquerten den Garten, keine Vögel kamen und riefen. Gelegentlich zirpte eine Zikade, aber nicht so eindringlich wie sonst. Kurz vor sieben wurde ich hungrig und machte mir aus Dosen und Gemüse ein Abendessen zurecht. Ich hörte mir zum ersten mal seit Ewigkeiten wieder die Abendnachrichten im Radio an, aber in der Welt war nichts Besonderes passiert. Ein paar Jugendliche waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als der Fahrer ihres Wagens bei einem Überholmanöver auf der Schnellstraße die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte und gegen eine Wand gerast war. Gegen den Leiter und das Personal der Zweigstelle einer größeren Bank wurde wegen illegaler Darlehensgeschäfte polizeilich ermittelt. Eine sechsunddreißigjährige Hausfrau aus Machida war auf offener Straße von einem jungen Mann mit einem Hammer erschlagen worden. Aber das waren alles Ereignisse aus einer anderen, fernen Welt. Das einzige, was sich in meiner Welt ereignete, war der Regen, der im Garten fiel. Lautlos. Sanft.
    Als die Uhr neun zeigte, zog ich vom Sofa ins Bett um, und nach einem Kapitel des Buches, das ich zu lesen begonnen hatte, schaltete ich das Licht aus und schlief

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