Mister Aufziehvogel
Brunnens. Ihnen gehört das Licht, während ich dabei bin, es zu verlieren. Mitunter befällt mich das Gefühl, ich könnte nie wieder in jene Welt zurückfinden, nie wieder den Frieden erleben, vom Licht umhüllt zu sein, nie wieder den weichen Körper des Katers an mich drücken dürfen. Und dann verspüre ich einen dumpfen Schmerz in der Brust, als würde da in mir etwas totgedrückt.
Während ich jedoch mit der Gummisohle meines Tennisschuhs die weiche Erde auf dem Grund des Brunnens aufscharre, rücken alle Szenen der Erdoberfläche in die Ferne. Der Wirklichkeitssinn weicht zurück und wird durch die Enge des Brunnens ersetzt, die mich umfängt. Hier unten im Brunnen ist es warm und still, und das Erdinnere streichelt sanft meine Haut. Der Schmerz in mir vergeht wie die Kräuselungen eines Wasserspiegels. Der Ort nimmt mich an, und ich nehme den Ort an. Ich halte den Schläger fester. Ich schließe die Augen, öffne sie dann wieder und blicke steil nach oben.
Ich ziehe an dem Seil, um mit Hilfe eines Systems von Flaschenzügen, das der geschickte junge Zimt für mich konstruiert hat, den Brunnendeckel zu verschließen. Die Dunkelheit ist nun vollkommen. Der Mund des Brunnens ist verschlossen und alles Licht verschwunden. Nicht einmal das gelegentliche Geräusch des Windes ist jetzt mehr zu hören. Der Bruch zwischen »den Leuten« und mir ist nunmehr absolut. Ich habe nicht einmal eine Taschenlampe bei mir - das ist so etwas wie ein Glaubensbekenntnis. Ich will »ihnen« damit zeigen, daß ich versuche, die Dunkelheit ganz zu akzeptieren.
Ich setze mich auf die Erde, lehne den Rücken an die Betonwand, umklammere den Schläger, der aufrecht zwischen meinen Knien steht, und lausche mit geschlossenen Augen dem Schlag meines Herzens. Natürlich bräuchte ich hier unten in der Dunkelheit die Augen gar nicht zu schließen, aber ich tue es dennoch. Die Augen zu schließen hat eine Bedeutung, ob nun im Dunkeln oder im Licht. Ich atme mehrmals tief durch und lasse meinem Körper Zeit, sich an diesen tiefen, dunklen zylindrischen Raum zu gewöhnen. Der Geruch hier unten ist der gleiche wie immer, die Luft fühlt sich an meiner Haut wie immer an. Der Brunnen war eine Zeitlang zugeschüttet, aber die Luft hier ist seltsamerweise noch die gleiche wie zuvor. Mit ihrem Anflug von Moder und Feuchtigkeit riecht sie genauso wie damals, als ich zum ersten Mal hier hinuntergestiegen bin. Es gibt hier unten keine Jahreszeiten. Nicht einmal die Zeit existiert.
Ich trage immer meine alten Tennisschuhe und meine Plastikuhr - diejenige, die ich am Arm hatte, als ich zum ersten Mal in den Brunnen stieg. Wie der Schläger, wirken sie beruhigend auf mich. Ich vergewissere mich im Dunkeln, daß diese Gegenstände sich in engem Kontakt mit meinem Körper befinden. Ich vergewissere mich, daß ich nicht von mir getrennt bin. Ich öffne die Augen, und nach einiger Zeit schließe ich sie wieder. Das hat den Zweck, den Druck der Dunkelheit in mir demjenigen der mich umgebenden Dunkelheit anzugleichen. Es vergeht Zeit. Schon bald verliere ich, wie immer, die Fähigkeit, zwischen den beiden Arten von Dunkelheit zu unterscheiden. Ich weiß nicht mehr, ob meine Augen offen oder geschlossen sind. Das Mal an meiner Wange fiebert leicht. Ich weiß, daß es einen kräftigeren Violett-Ton annimmt.
In den beiden sich zunehmend vermengenden Dunkelheiten konzentriere ich mich auf mein Mal und denke an das Zimmer. Ich versuche, mich von mir zu lösen, wie ich das jedesmal tue, wenn ich mit den Frauen zusammen bin. Ich versuche, aus diesem meinem schwerfälligen Körper, der hier unten im Dunkeln kauert, herauszukommen. Jetzt bin ich nichts als ein leerstehendes Haus, ein verlassener Brunnen. Ich versuche auszusteigen, die Fahrzeuge zu wechseln, von einer Wirklichkeit in eine andere, sich verschieden schnell bewegende Realität zu springen, und halte dabei den Schläger fest umklammert.
Jetzt trennt mich nur noch eine einzige Wand von dem seltsamen Zimmer. Es müßte mir gelingen, durch diese Wand zu gehen. Ich müßte es schaffen - aus eigener Kraft und mittels der Kraft dieser tiefen Dunkelheit hier drinnen. Wenn ich den Atem anhalte und mich konzentriere, gelingt es mir zu sehen, was sich in dem Zimmer befindet. Ich selbst befinde mich nicht darin, aber ich erkenne, was es ist - die Hotelsuite: Zimmer 208. Schwere Vorhänge verhüllen die Fenster. Im Zimmer ist es dunkel. In einer Vase steht ein üppiger Blumenstrauß, und sein aufreizender Geruch
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