Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
seine Beziehungen in Armee und Partei spielen zu lassen: Nach einem Jahr würde er ihn aus dem Lager herausholen und wieder in seine frühere Position einsetzen. So hatte Nikolai es jedenfalls gehört.
    » Sie verstehen also, Mamiya « , sagte Nikolai leise zu mir, » jeder rechnet damit, daß Boris früher oder später nach Moskau zurückkehrt, daß Berija ihn in nicht allzu langer Zeit befreien wird. Es stimmt, daß Berija vorsichtig sein muß: Dieses Lager steht noch immer unter der Aufsicht von Partei und Armee. Aber keiner von uns kann sich in Sicherheit wiegen. Der Wind kann sich von einem Tag auf den anderen drehen. Und wenn das passiert, ist jeder, der Boris hier Schwierigkeiten gemacht hat, erledigt. Die Welt mag voll von Idioten sein, aber niemand ist so dumm, sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben. Wir müssen ihn mit Samthandschuhen anfassen. Er ist hier Ehrengast. Natürlich können wir ihm keine Diener geben und ihn so behandeln, als wäre er im Hotel. Um den Schein zu wahren, müssen wir ihn in Ketten gehen lassen und ihm ein paar Steine zum Zertrümmern geben, aber er hat ein eigenes Zimmer und soviel Alkohol und Tabak, wie er will. Wenn Sie mich fragen, ist er die reinste Giftschlange. Ihn am Leben zu lassen wird niemandem etwas nützen. Jemand sollte sich eines Nachts zu ihm ins Zimmer schleichen und ihm die Kehle durchschneiden. «
     
    Als ich ein paar Tage später am Bahnhof vorbeikam, hielt mich der stämmige Feldwebel wieder an. Ich machte Anstalten, ihm meinen Passierschein zu zeigen, aber er schüttelte den Kopf und befahl mir, ins Büro des Stationsvorstehers zu gehen. Verblüfft gehorchte ich und fand im Büro nicht den Stationsvorsteher vor, sondern Boris Gromow. Er saß am Schreibtisch, trank Tee und hatte offensichtlich auf mich gewartet. Ich erstarrte auf der Schwelle. Er trug keine Fußfesseln mehr. Mit einer Geste bedeutete er mir einzutreten.
    » Schön, Sie zu sehen, Leutnant Mamiya. Es ist Jahre her « , sagte er vergnügt und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Er bot mir eine Zigarette an, aber ich lehnte mit einem Kopfschütteln ab.
    » Neun Jahre, um genau zu sein « ,fuhr er fort und zündete sich selbst eine Zigarette an. » Oder nur acht? Wie auch immer, es ist wunderbar, Sie gesund und munter zu sehen. Was für eine Freude es doch immer ist, alte Freunde wieder zu treffen! Besonders nach so einem erbarmungslosen Krieg. Finden Sie nicht auch? Und wie haben Sie es damals geschafft, aus diesem Brunnen herauszukommen? « Ich stand einfach nur so da und sagte kein Wort.
    » Auch gut, vergessen Sie’s. Die Hauptsache ist, daß Sie herausgekommen sind. Und dann haben Sie irgendwo Ihre Hand verloren. Und dann haben Sie so flüssig russisch sprechen gelernt! Wunderbar, wunderbar. Eine Hand ist nicht die Welt. Was wirklich zählt, ist, daß Sie am Leben sind. «
    » Wenn ’s nach mir ginge, wäre ich es nicht « , erwiderte ich.
    Boris lachte laut auf. » Sie sind ein wirklich interessanter Bursche, Leutnant Mamiya. Sie wären lieber nicht am Leben, und trotzdem sind Sie hier, und quicklebendig. Ja, ein wirklich interessanter Bursche. Aber ich bin nicht so leicht hinters Licht zu führen. Ein gewöhnlicher Mann hätte es nie geschafft, aus eigener Kraft aus diesem Brunnen herauszukommen - herauszukommen und den Weg zurück zum Fluß und in die Mandschurei zu finden. Aber keine Sorge. Ich werd’s für mich behalten.
    Nun aber genug von Ihnen - reden wir von mir. Wie Sie sehen können, habe ich meine frühere Position eingebüßt und bin jetzt ein gewöhnlicher Häftling in einem Konzentrationslager. Aber ich habe nicht die Absicht, ewig hier am Ende der Welt zu bleiben und mit einem Vorschlaghammer Steine zu klopfen. Im Zentralkomitee bin ich noch so mächtig wie eh und je, und ich benutze diese Macht, um meine Macht im Lager von Tag zu Tag zu vergrößern. Und deswegen möchte ich Ihnen in aller Offenheit sagen, daß mir viel daran liegt, gute Beziehungen zu euch japanischen Kriegsgefangenen aufzubauen. Schließlich hängt die Produktivität dieses Bergwerks von euch Männern ab- von eurer Kopfzahl und eurer Arbeitsleistung Wir können nichts erreichen, wenn wir eure Macht ignorieren, und dies schließt auch Ihre persönliche, individuelle Macht ein, Leutnant Mamiya. Ich möchte, daß Sie mir etwas davon zur Verfügung stellen. Sie sind ein ehemaliger Nachrichtenoffizier der Kwantung-Armee und ein sehr mutiger Mann. Sie sprechen fließend Russisch. Wenn Sie sich bereit

Weitere Kostenlose Bücher