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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mußte geglaubt haben, ich sei auf dem Grund eines mongolischen Brunnens verrottet. Und ich hätte mir natürlich nie träumen lassen, daß er mir in einem sibirischen Arbeitslager, als Sträfling gekleidet, wieder über den Weg laufen würde. Er brauchte nicht mehr als einen Augenblick, um seine Fassung wiederzugewinnen; dann begann er, dem analphabetischen Feldwebel, dem eine Maschinenpistole vom Nacken herabhing, mit ruhiger Stimme meinen Passierschein vorzulesen. Er las vor, wie ich hieß, daß ich Dolmetscher sei und befugt, mich in den verschiedenen Bereichen des Lagers zu bewegen, und so weiter. Der Feldwebel händigte mir den Passierschein wieder aus und entließ mich mit einem Rucken des Kinns. Ich ging ein kurzes Stück weiter und sah mich dann um. Der Mann starrte mir nach. Um seine Lippen schien der Anflug eines Lächelns zu spielen, doch es kann auch meine Einbildung gewesen sein. Mir zitterten die Knie. Eine Zeitlang schaffte ich es nicht, geradeaus zu gehen. All das Entsetzen, das ich neun Jahre zuvor durchlebt hatte, war mir schlagartig wieder gegenwärtig geworden. Der Mann mußte in Ungnade gefallen und in dieses sibirische Straflager deportiert worden sein, nahm ich an. Solche Dinge waren in der damaligen Sowjetunion keine Seltenheit. Innerhalb der Regierung, der Partei und der Streitkräfte wüteten erbitterte Machtkämpfe, und Stalins krankhafter Argwohn verfolgte die Unterlegenen ohne Erbarmen. Ihrer Ämter enthoben, wurden solche Männer vor Femegerichte gestellt und entweder kurzerhand exekutiert oder in ein Konzentrationslager geschickt - wobei nur ein Gott beurteilen könnte, welche der beiden Gruppen die glücklichere war. Die dem Todesurteil entkamen, gewannen nur ein Sklavenleben von unvorstellbarer Grausamkeit. Wir japanische Kriegsgefangene konnten uns zumindest in der Hoffnung wiegen, irgendwann in unsere Heimat zurückzukehren, falls wir überlebten - verbannte Russen kannten eine solche Hoffnung nicht. Wie alle seine Landsleute würde auch dieser Mann zuletzt die sibirische Erde mit seinen Knochen düngen.
    Nur eines beunruhigte mich im Zusammenhang mit ihm, nämlich daß er jetzt meinen Namen kannte und wußte, wo er mich finden konnte. Vor dem Krieg hatte ich (wenn auch völlig ahnungslos) an dieser geheimen Operation mit dem Agenten Yamamoto teilgenommen, hatte den Chalcha überquert und war zu Spionagezwecken in mongolisches Territorium eingedrungen. Wenn der Mann diese Information an die Lagerleitung weitergab, konnte ich leicht in eine sehr unangenehme Situation geraten. Doch wie sich herausstellte, denunzierte er mich nicht. Nein, wie ich später entdecken sollte, hatte er mit mir weit ehrgeizigere Pläne.
    Eine Woche später sah ich ihn wieder außerhalb des Bahnhofs arbeiten. Er war noch immer in Ketten, trug dieselbe schmutzige Sträflingskleidung und zertrümmerte Steine mit dem Vorschlaghammer. Ich sah ihn an, und er sah mich an. Er stützte seinen Hammer auf den Boden und wandte sich mir zu, so stramm und aufrecht wie seinerzeit in seiner Militäruniform. Diesmal lag ganz eindeutig ein Lächeln auf seinem Gesicht - ein blasses, aber unübersehbares Lächeln, und dieses Lächeln ließ eine Grausamkeit erahnen, die mir die Gänsehaut über den Rücken jagte. Es war derselbe Ausdruck, mit dem er vor neun Jahren zugesehen hatte, wie Yamamoto bei lebendigem Leib gehäutet worden war. Ich sagte nichts und ging weiter.
    Zu jener Zeit hatte ich einen Freund unter den Offizieren der im Lager stationierten sowjetischen Einheit. Wie ich, hatte er (in Leningrad) Geographie studiert. Wir waren gleichaltrig und beide gleichermaßen an kartographischer Arbeit interessiert, und so fanden wir von Zeit zu Zeit einen Vorwand, um ein wenig miteinander zu fachsimpeln. Er interessierte sich besonders für die strategischen Karten der Mandschurei, die die Kwantung-Armee erstellt hatte. Natürlich konnten wir solche Gespräche nicht in Anwesenheit seiner Vorgesetzten führen. Wir mußten dazu die Gelegenheiten abpassen, bei denen wir unter uns waren. Manchmal steckte er mir etwas zu essen zu oder zeigte mir Bilder von der Ehefrau und den Kindern, die er in Kiew zurückgelassen hatte. Er war der einzige Russe, zu dem ich während meiner ganzen Internierung in der Sowjetunion so etwas wie eine persönliche Beziehung gewann.
    Einmal fragte ich ihn beiläufig nach den Sträflingen, die am Bahnhof arbeiteten. Besonders einer von ihnen, sagte ich, sei mir anders als die durchschnittlichen

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