Mister Aufziehvogel
Dolmetscher. Die dreißigminütige Unterredung endete mit einem geheimen Abkommen, das die beiden mit Handschlag besiegelten. Ich weiß nicht genau, was danach geschah. Um keinen Argwohn zu erregen, vermieden die beiden Männer jeden direkten Kontakt, doch sie scheinen über irgendwelche geheimen Kanäle ständig verschlüsselte Botschaften ausgetauscht zu haben. Damit endete meine Rolle als Mittelsmann. Was mir nur recht war. Wenn irgend möglich, wollte ich nie wieder etwas mit Boris zu tun haben. Erst später sollte ich erkennen, daß dies eben nicht möglich war.
Ungefähr einen Monat später berief das Zentralkomitee, wie Boris versprochen hatte, das Politbüromitglied von seinem Amt ab und schickte zwei Tage später ein weiteres Mitglied, das seinen Platz einnehmen sollte. Wieder zwei Tage vergingen, und drei japanische Gefangene wurden während der Nacht erdrosselt. Man fand sie an Deckenbalken aufgehängt, als hätten sie Selbstmord begangen, aber es war offensichtlich, daß sie von anderen Japanern gelyncht worden waren. Die drei mußten die Informanten gewesen sein, von denen Boris gesprochen hatte. Eine Untersuchung des Falls fand nie statt. Mittlerweile hatte Boris das Lager in der Hand.
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D ER SCHLÄGER VERSCHWINDET
DIE RÜCKKEHR DER DIEBISCHEN ELSTER
Warm eingepackt in einen Pullover und meine Seemannsjacke, die Wollmütze bis fast zu den Augen heruntergezogen, stieg ich über die Gartenmauer und ließ mich auf die Gasse hinuntergleiten. Bis zum Sonnenaufgang war es noch eine Weile hin, die Leute schliefen noch. Ich stapfte los in Richtung Zentrale. Im Haus sah noch alles genauso aus, wie ich es sechs Tage zuvor verlassen hatte, einschließlich des schmutzigen Geschirrs in der Spüle. Ich fand weder irgendwelche Zettel noch Botschaften auf dem Anrufbeantworter. Der Bildschirm von Zimts Computer war immer noch kalt und tot. Dank der Heizung herrschte im Haus eine normale Zimmertemperatur. Ich zog Jacke und Handschuhe aus, setzte Wasser auf und machte mir Tee. Als Frühstück aß ich ein paar Kräcker mit Käse, dann spülte ich das ganze schmutzige Geschirr und räumte es weg. Wieder wurde es neun, ohne daß Zimt aufgetaucht wäre.
Ich ging hinaus in den Garten, klappte die Abdeckung des Brunnens hoch und spähte hinunter: dieselbe undurchdringliche Dunkelheit wie immer. Ich kannte den Brunnen jetzt so gut, als sei er eine Fortsetzung meines eigenen Körpers:
Seine Dunkelheit, sein Geruch und seine Stille waren Teile meiner selbst. In gewissem Sinne kannte ich den Brunnen besser, als ich Kumiko kannte. Die Erinnerung an sie war natürlich noch immer frisch. Wenn ich die Augen schloß, konnte ich mir ihre Stimme, ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Bewegungen in allen Einzelheiten vergegenwärtigen. Schließlich hatte ich sechs Jahre lang mit ihr im selben Haus gelebt. Dennoch kam es mir so vor, als gäbe es bestimmte Aspekte von ihr, die ich mir nicht so deutlich ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Oder vielleicht war ich mir auch nur nicht sicher, ob meine Erinnerungen an sie der Wirklichkeit entsprachen - so wie ich mich, als der Kater zurückkam, nicht mehr genau entsinnen konnte, wie die Kurve seines Schwanzes ursprünglich ausgesehen hatte.
Ich setzte mich auf die Brunnenumrandung, steckte die Hände in die Jackentaschen und sah mich noch einmal aufmerksam um. Ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick könnte ein kalter Regen oder Schnee herunterkommen. Es wehte kein Wind, aber die Luft war durch und durch eisig. Ein Schwarm kleiner Vögel schoß am Himmel in komplizierten Linien hin und her, als malte er da oben eine Hieroglyphe in das Grau: dann ein Geschwirr, und sie waren verschwunden. Bald darauf hörte ich das leise Dröhnen eines Düsenflugzeugs, aber die Maschine blieb hinter der dicken Wolkenschicht verborgen. An einem so dunklen, bedeckten Tag konnte ich in den Brunnen steigen, ohne befürchten zu müssen, daß mir die Augen weh tun würden, wenn ich wieder ans Licht kam. Dennoch blieb ich noch eine Weile untätig da sitzen. Ich hatte keine Eile. Der Tag hatte gerade eben angefangen, bis Mittag war es noch ziemlich lang hin. Ich überließ mich den Gedanken, die mir, während ich so auf dem Brunnenrand saß, ungeordnet in den Sinn kamen. Wo sie wohl die Vogelplastik hingeschafft hatten, die früher in diesem Garten gestanden hatte? Schmückte sie jetzt einen anderen Garten, noch immer unaufhörlich von dem sinnlosen Drang beseelt, sich in den Himmel aufzuschwingen? Oder war
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