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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zu erkennen. Auf den einfachsten Nenner gebracht, kann man sagen, daß du von meiner Welt in die Welt von Noboru Wataya übergewechselt bist. Das Entscheidende ist dieser Wechsel. Ob du dann tatsächlich mit einem anderen Mann oder anderen Männern geschlafen hast, ist nur von zweitrangiger Bedeutung. Nur Fassade. Das meine ich.« Sie neigte im Dunkeln leicht ihr Glas. Als ich angestrengt in die Richtung des Geräusches starrte, kam es mir so vor, als könnte ich andeutungsweise ihre Bewegungen wahrnehmen, aber das war natürlich eine Sinnestäuschung. »Briefe haben nicht immer den Sinn, die Wahrheit mitzuteilen, Herr Okada«, sagte sie. Das war nicht mehr Kumikos Stimme. Aber es war auch nicht die anfängliche, jungmädchenhafte Stimme; es war eine neue, die jemand anderem gehörte. Sie hatte einen besonnenen, klugen Unterton. »… ebensowenig wie persönliche Begegnungen immer dazu da sind, daß man sich aufrichtig offenbart. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Herr Okada?«
    »Dennoch, Kumiko hat versucht, mir irgend etwas mitzuteilen. Ob’s nun die Wahrheit war oder nicht: sie erwartete irgend etwas von mir, und das war für mich die Wahrheit.«
    Ich spürte, wie die mich umgebende Dunkelheit an Dichte zunahm - lautlos, wie die Abendflut steigt. Ich mußte mich beeilen. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Möglich, daß sie mich hier suchen würden, sobald das Licht wieder anging. Ich beschloß, es zu riskieren und die Gedanken, die langsam in mir Gestalt angenommen hatten, in Worte zu fassen.
    »Das ist jetzt reine Spekulation - ein Produkt meiner Phantasie -, aber ich könnte mir vorstellen, daß in der Familie Wataya irgendeine Veranlagung oder Tendenz von Generation zu Generation vererbt wird. Was für eine Anlage, kann ich nicht sagen, aber eine gewisse Anlage gibt es - eine, vor der du dich gefürchtet hast. Deswegen hattest du auch Angst, Kinder zu bekommen. Als du schwanger wurdest, bist du in Panik geraten, weil du befürchtet hast, dein Kind könnte die Veranlagung erben. Aber du konntest mir das Geheimnis nicht verraten. Damit hat die ganze Geschichte angefangen.«
    Ohne etwas zu sagen, stellte sie ihr Glas geräuschlos auf den Nachttisch. Ich fuhr fort: »Und deine Schwester ist auch bestimmt nicht an Lebensmittelvergiftung gestorben. Nein, es war schon ungewöhnlicher. Verantwortlich für ihren Tod war Noboru Wataya, und das weißt du. Wahrscheinlich hat deine Schwester dir vor ihrem Tod etwas darüber gesagt, hat dich gewarnt. Noboru Wataya besaß wahrscheinlich irgendeine besondere Kraft, und er verstand es, Menschen, die auf diese Kraft besonders ansprachen, zu finden und etwas aus ihnen herauszuziehen. Bei Kreta Kano muß er diese Kraft besonders brutal eingesetzt haben. Sie hat es irgendwie geschafft, sich davon zu erholen, aber deine Schwester nicht. Schließlich wohnte sie im selben Haus: Sie konnte sich nirgendwo vor ihm verstecken. Sie hielt es nicht mehr aus und beschloß, sich das Leben zu nehmen. Deine Eltern haben ihren Selbstmord immer geheimgehalten. Habe ich nicht recht?« Es kam keine Antwort. Die Frau versuchte, sich im Dunkeln so still zu verhalten, als sei sie nicht mehr verhanden.
    Ich fuhr fort: »Wie er es fertiggebracht hat und was der Anlaß dazu war, ist mir schleierhaft, aber irgendwann hat Noboru Wataya seine zerstörerische Kraft potenziert. Durch das Fernsehen und die anderen Medien erhielt er die Möglichkeit, seine gesteigerte Kraft auf die Gesellschaft als Ganzes zu richten. Jetzt versucht er, etwas zum Vorschein zu holen, was die Masse der Bevölkerung im Dunkel des Unbewußten verborgen hält. Er will dieses Etwas zu seinem politischen Vorteil ausnutzen. Es ist unvorstellbar gefährlich, dieses Etwas, das er hervorzulocken versucht: es ist über und über mit Gewalt und Blut besudelt und steht unmittelbar in Beziehung zu den dunkelsten Abgründen der Geschichte, denn seine Wirkung ist letztendlich, Menschen -Massen von Menschen - zu vernichten.« Sie seufzte in der Dunkelheit. »Ob Sie wohl so freundlich wären, mir noch einen Whisky zu bringen?« fragte sie leise.
    Ich ging zum Nachttisch hinüber und holte ihr leeres Glas; das gelang mir im Dunkeln mühelos. Dann ging ich ins Nebenzimmer und schenkte im Licht der Taschenlampe einen neuen Whisky on the rocks ein.
    »Was Sie gerade gesagt haben, war reine Spekulation, nicht wahr?« fragte sie von nebenan. »Ihre Phantasie hat sie darauf gebracht?«
    »Das stimmt - ich habe ein paar Ideen aneinandergefügt«, sagte

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