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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich. »Beweisen kann ich davon nichts. Nichts berechtigt mich, zu behaupten, was ich gesagt habe, sei die Wahrheit.«
    »Trotzdem würde ich gern noch den Rest hören -falls es noch etwas zu erzählen gibt.«
    Ich ging ins Schlafzimmer zurück, stellte das Glas auf den Nachttisch und schaltete die Taschenlampe aus. Dann setzte mich wieder in meinen Sessel und konzentrierte mich ganz darauf, den Rest meiner Geschichte zu erzählen. »Du wußtest nicht genau, was mit deiner Schwester passiert war, nur, daß sie dich vor irgend etwas gewarnt hatte, bevor sie starb. Du warst damals noch zu klein, um zu begreifen, worum es ging. Aber auf verschwommene Weise hast du es doch verstanden. Du wußtest, daß Noboru Wataya deine Schwester irgendwie beschmutzt und versehrt hatte. Und du hast gespürt, daß es in deinem Blut irgendein dunkles Geheimnis gab, das du nicht einfach ignorieren konntest. Und so warst du zuhause immer allein, immer aufs äußerste angespannt, immer verzweifelt bemüht, dich auf eigene Faust mit deinen unterschwelligen Ängsten zu arrangieren, die nicht zu fassen waren - wie die Quallen, die wir im Aquarium gesehen haben.
    Nach dem College - und nach all den Problemen mit deiner Familie - hast du mich geheiratet und bist aus dem Haus der Watayas ausgezogen. Wir führten ein ruhiges Leben, und mit jedem Tag, der verging, gelang es dir, deine dunkle Angst ein bißchen mehr zu vergessen. Du fingst an, als ein neuer Mensch unter Menschen zu gehen, und deine Genesung machte langsam Fortschritte. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde sich für dich doch noch alles zum Guten wenden. Aber so einfach war es leider nicht. Irgendwann wurde dir bewußt, daß du gegen deinen Willen von dieser dunklen Kraft angezogen wurdest, von der du geglaubt hattest, du hättest sie hinter dir gelassen. Und als du erkanntest, was dir geschah, hast du den Kopf verloren. Du wußtest nicht, was du tun solltest. Und darum hast du dich mit Noboru Wataya getroffen, in der Hoffnung, von ihm die Wahrheit zu erfahren. Und hast dich mit Malta Kano getroffen, in der Hoffnung, sie könne dir helfen. Nur mir konntest du dich nicht anvertrauen.
    Ich vermute, das alles begann mit deiner Schwangerschaft. Bestimmt war das der Wendepunkt. Und darum habe ich wohl auch in der Nacht nach deiner Abtreibung die erste Warnung erhalten, von diesem Gitarrenspieler in Sapporo. Vielleicht wurde durch die Schwangerschaft ja das schlafende Etwas in dir gereizt und geweckt. Und genau darauf hatte Noboru Wataya die ganze Zeit gewartet. Vielleicht ist er nur auf diese Weise fähig, sich einer Frau sexuell zuzuwenden. Deswegen war er, als diese Tendenz sich in dir bemerkbar zu machen begann, so darauf versessen, dich mir abspenstig zu machen und wieder auf seine Seite zu ziehen. Er mußte dich haben. Noboru Wataya brauchte dich in der Rolle, die früher deine Schwester für ihn gespielt hatte.«
    Als ich fertig geredet hatte, strömte ein tiefes Schweigen in das entstandene Vakuum ein. Ich hatte alles ausgesprochen, was meine Phantasie mich über Kumiko gelehrt hatte. Einiges davon beruhte auf vagen Überlegungen, die mir schon vorher durch den Kopf gegangen waren, und das übrige hatte in mir Gestalt angenommen, während ich in der Dunkelheit gesprochen hatte. Vielleicht hatte die Macht der Dunkelheit die Lücken in meiner Vorstellung ausgefüllt. Oder vielleicht hatte mir die Anwesenheit dieser Frau geholfen. In jedem Fall aber hing alles, was ich mir da zusammengedacht hatte, ziemlich in der Luft.
    »Eine sehr, sehr interessante Geschichte«, sagte die Frau. Sie sprach jetzt wieder mit dem jungmädchenhaften Lispeln. Das Tempo, in dem ihre Stimme sich veränderte, nahm nun anscheinend zu. »Schön, schön, schön. Ich habe Sie also verlassen, um mich mit meinem beschmutzten Körper irgendwo zu verkriechen - das erinnert an die Waterloo Bridge im Nebel, ›Auld Lang Syne‹, Robert Taylor und Vivien Leigh -«
    »Ich hole dich hier raus«, fiel ich ihr ins Wort. »Ich nehme dich mit nach Hause, in die Welt, in die du gehörst, wo es knickschwänzige Kater gibt, kleine Gärten und Wecker, die morgens klingeln.«
    »Und wie wollen Sie das anfangen?« fragte die Frau. »Wie wollen Sie es anfangen, mich hier herauszuholen, Herr Okada?«
    »Wie sie das in Märchen tun«, sagte ich, »indem ich den Bann breche.«
    »Ah so, ich verstehe«, sagte die Stimme. »Aber warten Sie mal, Herr Okada. Sie scheinen zu glauben, daß ich Kumiko bin. Sie wollen mich als Kumiko zu

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