Mister Mädchen für alles
deren Vorstellung von sportlicher Betätigung darin bestand, einen Singapur Sling zu mixen. Nein, ihre Leidenschaft für den Sport hatte sie von ihrem Vater, der ein preisgekrönter Ruderer der Universität von Cambridge gewesen war und später eine Vorliebe für das Skifahren entwickelt hatte. Gemeinsam hatten sie Abfahrten auf schwarzen Pisten gemeistert, während ihre Mutter in Pelz gehüllt auf einer Berghütte saß und sich am Glühwein gütlich tat. Alex hätte allerdings gut auf die Größe und die breitschultrige Statur verzichten können, die sie ebenfalls von ihrem Vater geerbt hatte. Sie hatte es immer reichlich unfair gefunden, dass der Genpool ihrer Familie nicht die zierliche Figur ihrer Mutter an sie verteilt hatte. Und sie hätte ebenfalls gut auf das verzichten können, was ihr Vater ihr vor zehn Jahren nach seinem Tod hinterlassen hatte, als sie gerade dabei gewesen war, ihr Wirtschaftsstudium abzuschließen. Alles, was ihr blieb, waren eine fordernde Mutter, die Alex nicht so sehr zu verwöhnen gedachte, wie es einst ihr Vater getan hatte, und ein finanzielles Chaos, das sie noch immer zu entflechten versuchte.
Dass Alex ihn vergöttert und ihm vertraut hatte, machte die Sache nur schlimmer. Er hatte ihr immer das Gefühl gegeben, beschützt zu sein, und sie mit jener Großzügigkeit umfangen, die darauf baute, dass er jeden Tag lebte, alssei es sein letzter. Und sie hatte geglaubt, dass er sich seinen Lebensstil dank der Investitionen leisten konnte, die er einmal erwähnt hatte, doch wann immer sie ihm Fragen dazu gestellt hatte, hatte er nur leichtfertig abgewunken. Als sie älter wurde und begann, etwas von diesen Dingen zu verstehen, war sie davon ausgegangen, dass er ein finanzielles Polster besaß, denn seine sporadischen Geschäfte mit Oldtimern mussten auf irgendeine Weise finanziert werden, oder? Sie wurden es nicht. Die Schulgebühren, die funkelnde rote E-Klasse , die Ferien in Gstaad – all das hatte ihnen die Bank ermöglicht.
«Das entsetzliche Nylon-Sportzeug zahlt die Hypothek, danke der Nachfrage, und ja, ich denke, sie waren angemessen beeindruckt. Hör zu, ich muss hier ein paar wichtige Dinge erledigen, aber gegen drei Uhr dürfte ich zu Hause sein. Ich freue mich, Ella wiederzusehen. Sie scheint sich sogar besser zu machen, als ich dachte.» Und sie muss wirklich eine Engelsgeduld besitzen, dachte Alex bei sich, als sie auflegte und zu Gavin ging, der mit den Füßen auf dem Schreibtisch in seinem Büro saß und ein Paar Muster-Turnschuhe trug.
«Puh, man braucht eine Sonnenbrille, wenn du die Dinger trägst!» Alex tat so, als schirmte sie die Augen vor den grellen Farben ab. «Ist es erlaubt, solche schrecklichen Farben in der Öffentlichkeit zu tragen?»
Sportlich – alle im Büro waren sportlich – schwang Gavin die Beine vom Tisch, stand auf, hüpfte auf den Zehenspitzen auf und ab und joggte schließlich auf der Stelle. «Diese hier, mein liebes Mädchen, muss man einfach haben. Sie sind so ausgefeilt, dass wir unsere Konkurrenz damit nicht nur überholen, sondern weit hinter uns lassen werden. Und sie sind so gut gepolstert, dass es vergleichsweiseunbequem erscheint, über den Boden zu schweben.» Er gestikulierte heftig. «Sie sind so sehr auf Hochleistung ausgerichtet, dass selbst die lahmste Schnecke wie Jessie Owen laufen wird.» Er blickte nach unten auf seine Füße. «Findest du die Farbe nicht trotzdem genial? Neonorange und Zitronengelb sind das neue Schwarz, das im Turnschuhmarkt allerdings nie richtig angepriesen wurde. Aber jetzt, wo ich es sage …» Rasch setzte er sich wieder hin und notierte etwas auf einen Block.
Alex wartete. Sie war nicht so dumm, ihn bei seinen genialen Ideen zu unterbrechen. Wenigstens empfand Gavin sie als genial. Seine Gedankengänge glichen bestenfalls einem Fiebertraum, doch jeder in der Abteilung sah ihm seine flüchtige, willkürliche Arbeitsweise nach, denn einer von zehn Einfällen, die Gavin hatte, war wirklich Gold wert. Die übrige Zeit verbrachten alle damit, sich ihren Arbeitsalltag zu strukturieren und Gavins planlose Teamführung zu ignorieren. Während er sich die neue Produktionsidee für die Turnschuhe notierte – ein Einfall, der, wie Alex vermutete, zu seinen besseren gehörte –, blickte sie aus den großen Fenstern nach draußen auf die Themse. Ein Vergnügungsschiff fuhr flussaufwärts; sein Kielwasser schwappte ans Ufer. Die Touristen an Bord, zweifellos alle Japaner, betrachteten blinzelnd
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