Mister Mädchen für alles
die gewaltige Skyline der Innenstadt, die von der Frühlingssonne beschienen wurde.
Am liebsten hätte Alex sich jetzt hingelegt und geschlafen.
«Also», sagte Gavin, der sie nun wieder ansah. «Es tut mir leid, dass ich letzten Endes nicht selbst nach Toronto fliegen konnte. Wie ich hörte, ist die Sache ganz schön in die Hose gegangen. Ich hätte dich die Reise doch nicht allein machen lassen sollen, was?»
«Äh …» Das Lächeln in seinen Augen verunsicherte Alex ein wenig. War er wirklich gerade dabei, ihr einen Rüffel zu erteilen? «Da kann man nichts machen. Ein technischer Fehler, weißt du?»
«Mmm.» Er beugte sich nach unten, um die Turnschuhe auszuziehen. «Die Reaktionen auf deinen Auftritt waren offenbar in Ordnung, aber wir haben einfach zu wenig Zeit, um uns einen derartigen Bockmist erlauben zu können, Alex. Und das ist dir sicher klar. Bis zur Produkteinführung sind es nur noch ein paar Wochen, und ich kann es mir einfach nicht leisten, dass das Ganze schiefgeht. Wenn wir diese Kollektion in den Sand setzen, bringen mich die da oben um. Sie wollen, dass sie der Clou des Jahrzehnts wird. Und jetzt verschwinde.» Sie wandte sich zum Gehen. «Oh, und Alex?» Sie drehte sich wieder um. «Nächstes Mal nimmst du einen Ersatzlaptop mit, okay?»
Ihre Laune war an einem absoluten Tiefpunkt angelangt, als sie nach Hause kam – weil sie völlig übermüdet war, weil Todd wieder zurück in New York war, weil sie voller Wut auf Gavin war, der ihr für den Produktlaunch einen so knappen Zeitplan gesetzt hatte, und weil ihr nun die ewig gleiche Beschwerdelitanei ihrer Mutter bevorstand. Also tat sie etwas, was sie vorher noch nie getan hatte, und kehrte für ein halbes Bier im Pub am Ende der Straße ein. Himmel hilf, dachte sie, als sie sich in eine Ecke verzog, um den interessierten Blicken der drei Typen zu entgehen, die an der Bar hockten. Es ist Zeit für den Nachmittagstee, und ich werde zur Säuferin. Wenn ich einen Bierbauch bekomme, bin ich meinen Job schneller los, als ich «auf die Plätze» sagen kann. Übergewicht wurde in ihrer Firma nicht toleriert. Das stand zwar nicht im Arbeitsvertrag, galt aber als ungeschriebenes Gesetz. Wem der Bauch wieMuffinteig über die Lycra-Shorts quoll, dem war die Kündigung so gut wie sicher. Sie umfasste das Glas mit beiden Händen und dachte über das Desaster in Toronto nach. Hatte sie die Situation durch ihre einfallsreiche «Alle-mal-anfassen»-Taktik gerettet, oder hatte Gavin seine Warnung vorhin ernst gemeint? War sie eine Marketingfachfrau, die nichts verkaufen konnte? Es sah jedenfalls nicht gut aus. Als sie einen der Männer von der Bar mit seinem Bierglas und einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht auf sich zuschlendern sah, ließ sie sich noch tiefer in den Sitz rutschen.
«Haste mal Feuer, Schätzchen?»
«Äh, nein. Nein, ich rauche nicht. Tut mir leid.» Er war bereits wieder am Gehen, als er sich noch einmal umdrehte.
«Kann ich dir ’n großes Bier ausgeben?»
Ein großes Bier? Also gut, ihr T-Shirt war eine Katastrophe, aber wirkte sie heute wirklich so maskulin, dass man auf die Idee kam, ihr ein großes Bier auszugeben?
«Nein, nein danke.»
Er blickte zu seinen Kumpeln, die interessiert zuhörten, und sein süffisantes Grinsen wurde breiter. Er lehnte sich über den Tisch. «Oder wartest du auf deine Freundin?»
Alex schoss von ihrem Stuhl hoch, schnappte sich ihre Tasche und marschierte aus dem Pub. «Ich wette, die Schuhe sind bequem!», wurde ihr von hinten nachgerufen, als sie nach draußen lief.
Wütend knallte sie die Wohnungstür zu. Diese blöden Arschlöcher. «Bist du das, Liiiiebes?», rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Alex drückte die Tür auf und ließ schlagartig ihre Tasche auf den Teppich fallen. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie die Szene vor sich sah. DasZimmer war tadellos aufgeräumt, alle Oberflächen waren sauber und ordentlich. Es roch nach einer Mischung aus Möbelpolitur und Gebackenem. Durch die Küchentür konnte sie einen sauberen Stapel Bügelwäsche erkennen, und ihre Mutter – eine traumhafte Erscheinung in cremefarbener Seide – lag mit perfekt frisiertem Haar auf dem Sofa, umgeben von aufgeschüttelten Kissen und neben sich ein Tablett mit Tee.
«Oje, du siehst einfach schrecklich aus. Hol dir eine Tasse, und ich schenke dir etwas Tee ein. Ella musste heute früher los, um zum Zahnarzt zu gehen. Möchtest du einen?» Sie hielt ihr einen Porzellanteller mit Keksen
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