Mister Medusa
aufnehmen. Das muss man einfach mal so sehen, Mrs. Ascot.«
Ihre Kinnlade fiel zwar nicht eben nach unten, aber das Gesicht zeigte schon einen so enttäuschten Ausdruck, dass mir die Frau direkt Leid tat.
Deshalb lächelte ich sie vor der nächsten Antwort auch an. »Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht für Ihr Problem interessiere, Mrs. Ascot. Sie haben mich sehr wohl neugierig gemacht, und in einem stimme ich Ihnen auch zu. Mein Job ist tatsächlich so, dass er nicht an der Grenze aufhört. Er ist international, und deshalb werde ich wohl auch nach Stockholm reisen, wenn ich mit den schwedischen Kollegen gesprochen habe. Sind Sie damit zufrieden?«
Sie hätte vor Freude fast geweint, denn ich sah schon, wie es in ihren Augen schimmerte. Sie zog einige Male die Nase hoch und nickte. »Ja, das ist mehr, als ich erwarten durfte, Mr. Sinclair.«
»Noch einen Whisky?«
»Gern. Aber einen einfachen.«
Den bestellte ich bei der flotten Bedienung, die soeben wieder an mir vorbeilaufen wollte.
»Dann hätte ich noch zwei Fragen, Mrs. Ascot. Sie haben ja mit den Polizisten gesprochen. Wann ist die schreckliche Tat passiert, und wie heißt der ermittelnde Beamte?«
»Der Mord geschah vor drei Tagen. Das heißt, da wurde die Leiche gefunden. Der Name des ermittelnden Beamten ist Kommissar Björn Karlsson.«
»Danke.«
Mrs. Ascot lächelte jetzt. »Am liebsten würde ich mit Ihnen fahren, Mr. Sinclair. Aber das ist wohl nicht möglich – oder?«
Ich hob die Schultern. »Wir leben in einem freien Land. Niemand kann und wird Ihnen das Reisen verbieten, doch ich halte es für besser, wenn Sie hier in London bleiben und mich dort meine Arbeit machen lassen.«
»Ja, so muss ich das auch sehen, Mr. Sinclair. Auch wenn es mir anders lieber wäre.«
Der Whisky wurde gebracht. Dawn Ascot hob ihr Glas an. Sie blickte mir dabei in die Augen, und wieder kämpfte sie gegen Tränen an. Mit leiser Stimme sagte sie: »Diesmal trinke ich auf meine Tochter und darauf, dass ihr schreckliches Ende aufgeklärt wird und sie wieder ihren Frieden findet.«
»Wir werden sehen, Mrs. Ascot...«
***
Thore Hamrin war drei Tage nicht mehr in seinem Haus am Wasser gewesen und hatte sich in Stockholm aufgehalten. Schließlich war die Sehnsucht doch zu stark geworden. Er wohnte in Gamla Stan, dieser wunderschönen Altstadtinsel, auf der fast jedes Haus den Atem der Jahrhunderte abgab, die Gassen eng waren, im Sommer gefüllt mit Touristen, die an den zahlreichen Schaufenstern der unterschiedlichsten Geschäfte entlang flanierten. Seine Wohnung befand sich in einem grün gestrichenen Haus unter dem Dach. Durch große Fenster fiel genügend Licht, das er als Grafiker für seine Arbeit brauchte.
Hamrin war ein aktiver Mensch. Doch auch seiner Kreativität und seiner Konzentration waren ebenfalls Grenzen gesetzt, wenn er an den schrecklichen Fund dachte.
Das konnte er zwar verkraften, aber die Gedanken daran kehrten immer wieder zurück und hinderten ihn an der Arbeit. Er hatte schon mit zwei Auftraggebern gesprochen und nach vielen Reden die Termine um zwei Wochen verlängert.
In der Zwischenzeit hoffte er, sich erholt zu haben. An diesem Morgen stand er am Fenster seines Hauses und schaute nach unten auf den Stortoget Platz. Er war berühmt für seinen wunderschönen Weihnachtsmarkt, und bald würden die kleinen Buden und Stände wieder im festlichen Schmuck glänzen, ebenso wie die gesamte Altstadt.
Ihm war nicht nach Weihnachten zumute. Wahrscheinlich den meisten Menschen nicht, denn der Winter hatte sich mit seiner Ankunft in diesem Jahr lange Zeit gelassen. Es gab Jahre, da lagen die Straßen dick voller Schnee, aber jetzt schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und lockte ins Freie.
Thore dachte an die spätherbstlich gefärbte Umgebung nahe seines kleinen Hauses am Wasser und entschloss sich genau in dieser Sekunde, dorthin zu fahren.
Weg aus der Enge. Hinein in die Landschaft, in die er sich schon vor Jahren verliebt hatte.
Er drehte sich vom Fenster weg. Die beiden Taschen waren schnell gepackt, und knapp zehn Minuten später fuhr er sein Auto aus der etwas weiter entfernt liegenden Garage.
Er musste die Stadt in westliche Richtung verlassen und dabei einige Brücken überqueren. Angeblich sollte es 24 000 Inseln um Stockholm herum geben, aber Thore hatte sie noch nicht nachgezählt. Ihm reichte sein kleines Refugium, das an der Spitze einer Halbinsel lag, umgeben von der Einsamkeit. Es gab auch weitere Häuser,
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