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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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Geschichte ausdenken zu müssen? Sie sind kein großer Geschichtenerzähler, habe ich recht, Doktor?«
    » Es reicht «, sagte Sheppard.
     
    Wenn Sheppard an jene Nacht zurückdachte, konnte er manchmal nicht mehr unterscheiden, was real war und was nicht.
    Beispielsweise wusste er nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, ob er, nachdem Marilyn seinen Namen geschrien und ihn aufgeweckt hatte, wieder eingeschlafen war oder nicht. Wie lange, fragte er sich manchmal, dauerte es wohl, um siebenundzwanzigmal auf einen Menschen einzuschlagen? Er meinte, die Schläge selbst gehört zu haben oder die Stimmen zweier Personen, von Marilyn und von jemand anderem, manchmal sogar von noch mehr als nur zwei Personen. Oder hatte er sie stöhnen gehört, Marilyn und ihren Angreifer – Geräusche von Geschlechtsverkehr und stumpfen Schlägen, von einem Gegenstand, der auf Knochen trifft, schwer genug, den Körper zu verformen, aber nicht schwer genug, ihn zu zerschmettern? Er wusste es nicht mit Sicherheit zu sagen.
    Er konnte sich daran erinnern, die Treppe hinaufgejagt zu sein und sich am Treppengeländer hochgezogen zu haben, und an die Brise vom See und wie er, während er von seinem eigenen Schwung getragen über die Türschwelle stolperte, im Schlafzimmer jene Gestalt erkannte, die sich später in den Mann mit dem buschigen Haar verwandelte, mit dem er am Ufer rang. Aber in seiner anderen Erinnerung, in der Erinnerung seines Traums, kam er durch die Tür und spürte den Schlag – es war, wie von einer Welle umgehauen zu werden –, noch bevor er etwas sehen konnte. Welche Version stimmte?
    Als Arzt wusste er von der desorientierenden Nachwirkung eines neurologischen Traumas, er wusste, dass es wenig überraschend war, wenn seine Erinnerungen durcheinandergerieten, aber letztendlich war diese Diagnose ein schwacher Trost.
    Oder er erinnerte sich, wie er Marilyns eingeschlagenes Gesicht und den zertrümmerten Kiefer betrachtet und plötzlich jemanden im Erdgeschoss gehört hatte und aus dem Zimmer gerannt war; bei anderen Gelegenheiten schien es ihm, er sei zu Chips Zimmer hinübergestolpert, um nach dem Jungen zu sehen, und habe erst dann das Geräusch von unten gehört. Und dann bekam er ein schlechtes Gewissen und fragte sich, ob er bloß geträumt hatte, in Chips Zimmer gewesen zu sein, schließlich wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass er keinen Gedanken an den Jungen verschwendete.
    Und manchmal entfalteten sich die Erinnerungen auch in einer perfekten Reihenfolge: der Traum, Marilyns Schreie, der Sprung hinauf, der Schlag, das Aufwachen, die Geräusche des Eindringlings unten, das Bild, wie er auf der Veranda stand, der Wettlauf die Treppe hinunter an den Strand, der Kampf, das Aufwachen in der Dämmerung, als er das Haus im morgendlichen Licht sah und wusste, dass im Schlafzimmer die tote Marilyn lag. An anderen Tagen konnte er sich an wenig mehr als an seinen Traum erinnern, in dem er seine Tochter in den Händen hielt und Marilyn vom Wasser aus zuschaute, stumm und voller Liebe, und dann musste er an die Träume denken, die er als kleiner Junge gehabt hatte – im lebhaftesten davon konnte sich eine riesige eingesperrte Eule in seinem Kinderzimmer in genau dem Moment aus ihrem Käfig befreien, in dem er hereinkam, und er war gezwungen, zur Selbstverteidigung seine Hände seitlich in den großen Schnabel zu schieben –, und wie diese Träume sich von der Zeit ablösten, wie sie zu einer eigenständigen Art von Zeit wurden. Wobei im Laufe der Jahre mit der Erinnerung an tatsächliche Ereignisse dasselbe geschah.
    Der Umriss des Eindringlings in der Verandatür im Moment, als Sam die Treppe herunterkam; der Mann war groß, von Sheppards Größe und Statur, und das Haar schien ihm in einem buschigen Bürstenhaarschnitt vom Kopf abzustehen. Er sah, wie die geschwärzte Figur sich umdrehte und aus dem Haus rannte.
    Oft wurde Sheppard von Träumen gequält, die er für Erinnerungen an jene Nacht hielt – die Verfolgungsjagd am Strand zum Beispiel, wobei er im Traum praktisch dahinflog, wie ein Astronaut auf dem Mond, wie er vier oder fünf Treppenstufen auf einmal nahm und bei jedem Schritt riesige Luftsprünge machte, um schließlich auf die Gestalt niederzustoßen wie ein Falke auf seine Beute. Im Traum gelang es ihm, den Eindringling am Boden zu halten und zu würgen, was aber ganz eindeutig nicht wirklich passiert war, denn das Gesicht und der Hals an seinen Händen waren im Traum seine eigenen. »Sehe ich so aus?«,

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