Mister Peanut
dem Weg über den Flur und zur Abstellkammer waren, wo David sein Werkzeug aufbewahrte, fragte er sich, was die Nachbarn wohl über das ständige Geschrei denken mussten. Als er in seinem Werkzeugkasten nichts Geeigneteres finden konnte als einen Teppichschneider, ging er ins Badezimmer, wo sein Rasiermesser lag; als er aber die Tür des Medizinschränkchens zuklappte und Alice’ Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen plötzlich direkt vor sich sah, fuhr er herum, schob sie in den Flur zurück und riss die Arme hoch wie ein Baseballschiedsrichter, der einen Läufer safe gibt.
»Ich wünschte, du würdest dick bleiben!«, schrie er.
Alice erstarrte.
»Hast du mich verstanden?«
Er ging einen Schritt auf sie zu, sie wich einen zurück und blieb dann wie versteinert stehen.
»Alle paar Monate dasselbe Drama«, schrie David, »immer wieder Diät ! Alles dreht sich nur noch um deine Diät! Du rufst mich auf der Arbeit an, und wenn ich nach Hause komme, kannst du wieder über nichts anderes reden. Die Diät diktiert uns unsere Stimmungen und tötet unser Sexleben ab. Sobald ich mal eine Minute für mich habe, sobald ich in Gang komme, fängst du wieder damit an. Man könnte die Uhr danach stellen.« Er fuchtelte ihr mit einem Finger vor dem Gesicht herum. »Hast du eine Vorstellung davon, was ich in derselben Zeit alles tun könnte? Nein? Schon allein aus praktischen Gründen wünschte ich mir, du würdest dick bleiben.«
Alice rührte sich nicht von der Stelle, tastete aber nach der Wand in ihrem Rücken. Erst in diesem Augenblick bemerkte David, dass er noch immer das Rasiermesser in der Hand hielt.
Er verließ das Apartment und lief in Richtung Downtown, ohne zu wissen, wo genau er hinwollte. Es schneite heftig, die Autos näherten sich flüsternd und rollten mit einem Zischen an ihm vorbei, um gleich darauf als glühende Rücklichter hinter einem Vorhang aus Schneeflocken zu entschweben. Hier, im Freien, verflog die Wut, sie entschwand durch die Nacht und stieg zu den unsichtbaren Spitzen der Häusertürme empor. Er steckte das Rasiermesser ein und ärgerte sich über seinen Mangel an Leidenschaft. Vielleicht ließe sich seine Wut in einem geschlossenen Raum neu entfachen? Er kam an einem Pub mit Weihnachtsbeleuchtung und voll besetztem Tresen vorbei, aber er wusste, dass es ihn nur verunsicherte und erst recht nach Hause zurückkehren ließ, wenn er an einem fremden Ort zwischen lauter Fremden saß und zu viel trank. Er schlug seinen Mantelkragen hoch. Die Schneeflocken landeten sanft auf seinem Hals und schmolzen auf seinem schwarzen Haar. An der 57. Straße bog er nach Westen ab und entdeckte sein Spiegelbild in einem schwarzen Schaufenster; er könnte selbst ein bisschen abnehmen. Er blieb vor der Auslage von Tiffany’s stehen, und sein Atem ließ das winzige Fenster beschlagen. Scheinbar war das Gebäude nur errichtet worden, um die wenigen hier ausgestellten Juwelen zu beherbergen. Er lief die Fifth Avenue hinauf und sah zum gold- und smaragdfarbenen Plaza hinüber, generalüberholt und in neuem Glanz, bis General Sherman und die geflügelte Victoria ihn innehalten ließen. Wie hypnotisiert stand er vor dem Pulitzer-Brunnen, in dem das von unten beleuchtete Wasser sich kräuselte und funkelte wie ein Wasserfall aus Diamanten. Plötzlich fing er zu frieren an, er spürte eine Kälte in seinen Knochen, wie sie in seiner Vorstellung nur verirrte Bergwanderer oder Obdachlose befällt. Er wusste, Alice würde die Diät abbrechen und das verlorene Gewicht innerhalb von wenigen Wochen wieder zulegen. Alles wäre wieder beim Alten, und sie wäre wieder seine Frau. Denn so lief es immer, dachte David, es nahm immer das gleiche Ende. Manchmal hatte er das Gefühl, einen zu hohen Preis zu zahlen, dann wieder war er überzeugt, seine Geduldsvorräte noch lange nicht aufgebraucht zu haben. Er überlegte sich, was sie durchgemacht hatte, welchen Preis sie für diese Ehe zahlte, wie sehr sie sich verändert hatte. Und auf einmal überkam ihn ein so brennender Selbsthass, dass er kurz den Wunsch verspürte, in einer biblischen Zurschaustellung seiner Reue auf die Knie zu fallen und sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich in den Brunnen zu stürzen und den Schmerz zu betäuben.
Er lief nach Hause.
Als David die Tür zum Apartment aufschloss, hörte er ein Würgen. Auf dem Boden lag Müll verstreut, aufgerissene Imbissverpackungen, die ihm wie bei Hänsel und Gretel den Weg in die Küche wiesen. Die Kerzen, die
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