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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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stimmte. Obwohl ihr Gewichtsverlust dramatische Ausmaße annahm und David sich kaum zu blinzeln traute aus Angst, einen Schritt der wundersamen Verwandlung zu verpassen, kam es immer wieder zu Nachbeben und Schiffbrüchen; an einigen Stellen war Alice’ Haut so überdehnt – sie hing ihr von den Oberarmen wie ausgewalzter Pizzateig, und die Rolle um ihre Taille ließ sich verschieben wie der Bund eines Pullovers –, dass sie sich durch keine Turnübung der Welt mehr straffen oder glätten lassen würde. Dem Problem wäre nur noch chirurgisch beizukommen. Man würde Alice abflensen wie einen Wal.
    »Meine Haut«, sagte sie verwundert, »ist wie ein zu großer Raumanzug.« Sie konnte sich nicht von ihrem Spiegelbild losreißen, drehte sich hin und her, als wäre ihre Nacktheit ein neues Kleid. »Es ist seltsam«, sagte sie. »Ich habe nicht mehr das Gefühl zu hungern. Wenn die Ärzte die ganze Haut wegschneiden, werde ich zum Vorschein kommen. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ja«, sagte er.
    »Früher war es anders.«
    Auf einmal wurde er ganz wehmütig.
    Sie war immer noch Alice, diese Nicht-Alice. Ihr Lächeln war dasselbe, ihre vielen kleinen Macken blieben dieselben, aber die neue Leichtigkeit und die neunmonatige Odyssee hatten sie heimlich an Selbstvertrauen gewinnen lassen. Die neue Alice erschien ihm wie ein Wunder – welches man bekanntlich nicht verstehen, sondern nur bedingungslos lieben konnte.
    Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an, strich sich das Haar hinters Ohr und kam aufs Bett zu, kroch auf allen vieren, bis sie nah genug war, ihn zu küssen. Und dann küsste sie ihn. »Ich werde mich jetzt wiegen, und dann möchte ich, dass du ein Foto von mir machst. Und dann schreibst du.«
    Die Gefühle, die Pepin bis jetzt unterdrückt hatte, stiegen an die Oberfläche. »Ich möchte nicht schreiben.«
    Alice nahm sein Kinn in die Hand, hob es an, bis ihre Blicke sich trafen, und fuhr ihm mit der anderen Hand über den nackten Kopf. Tausende von Kommata übersäten seinen Schädel. »Bring es zu Ende«, sagte sie. »Du bist fast fertig.«
    Sie ging ins Bad, um sich zu wiegen, und das Haar fiel ihr übers Gesicht, als sie auf die Anzeige niederstarrte – »Fünfundachtzig«, rief sie. Dann zog sie ein Kleid an, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz und ging in die Küche, Pepin im Schlepptau. Sie stellte sich lächelnd vor den Kühlschrank, und er knipste das Foto und schüttelte das rechteckige Bild aus, das die Polaroidkamera wie eine Zunge herausgeschoben hatte; das allmähliche Hervortreten der Konturen und Farben – von Weiß über Gelb bis hin zu Blau und Grün, wie bei einem Gefühlsring – war befriedigender als jeder digitale Prozess, und schließlich erschien, wie zur Belohnung für das lange Warten, eine neue Alice mit vom Blitz weiß gewaschenem Gesicht. Sie bewunderten beide das Foto. Alice rollte ein Stückchen Klebeband zu einem Kringel zusammen, drückte den Kringel auf die Rückseite des Polaroids und dieses wiederum links oben an die Kühlschranktür.
    »Bis später«, sagte sie; dann verschwand sie für den Rest des Tages.
     
    Wieder allein, schrieb David mit der stillen Hochgeschwindigkeit weiter, mit der er unterwegs war, seit der Roman seinen Höhepunkt erreicht hatte, einen in dunkler Nacht überquerten Gipfel. Er wusste nicht genau, wie lange er noch brauchen würde, hatte aber eine ungefähre Vorstellung von den Volten, die noch zu schlagen waren, von der ungefähren Gestalt des Romans. Auf dem Weg zur Auflösung spaltete sich die Handlung in eine Reihe von Strängen auf, die auf verschiedene Lösungsmöglichkeiten zuliefen, die allesamt glaubhaft waren, von denen aber nur eine einzige eintreten und die Handlung an den Anfang zurückführen konnte, genau so, wie die Form des Romans es vorsah. Was das Ende betraf, so wusste er darüber nur, dass er sich ihm schnell näherte.
     
    Als er vom Joggen nach Hause kam, wartete sie mit chinesischem Essen auf ihn. Mit Alice zu essen bedurfte einer gewissen Gewöhnung. Ihre Portionen waren geradezu liliputanisch. Er war gezwungen, die einzelnen Gänge schnell hinunterzuschlingen, um mit ihr Schritt zu halten. Im Gegensatz zu seinem Teller mit Wan-Tan-Suppe (in der zwei Teigtaschen schwammen) schenkte sie sich lediglich ein Auflaufförmchen ein (dazu eine halbe Teigtasche), das sie wie ein Schnapsglas auch auf einen Zug hätte leeren können. Er belud seinen Teller mit Bratnudeln, Hühnchen in Zitrone, Rindfleisch mit Brokkoli und

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