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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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das Seminar sein ganzes Leben verändern sollte: Hier sah er Alice zum ersten Mal.
    Das Seminar wurde in einem großen Hörsaal abgehalten, der durch zwei Aufgänge in drei Blöcke unterteilt war, und David, der die hintersten Reihen bevorzugte, wählte den letzten Sitz des mittleren Blocks. Das Seminar war zu zwei Dritteln ausgelastet, hauptsächlich von Studienanfängern, von denen viele ebenso wie der Professor zu spät hereingeschlendert kamen. David zog das Calvino-Buch aus seiner Tasche, das er gerade las, Die unsichtbaren Städte . Fasziniert von der komplexen Einfachheit und einer vagen Ahnung, dass das Buch sich als Vorlage für ein Computerspiel eignen könnte, überlegte er ernsthaft, das Seminar zu wechseln, als er zu seiner Linken Alice die Treppe heruntersteigen sah.
    Er konnte sich nicht mehr bewegen. Trotz der Entfernung war er von ihrem Haar wie verzaubert. Es hing ihr bis auf die Hüfte und hatte einen besonderen, pferdeähnlichen Glanz, eine Seidigkeit, die besonders am Scheitel das Licht reflektierte und ihn auf Anhieb verstehen ließ, warum manche Leute so eine Freude dabei empfinden, Pferde zu striegeln, oder warum Mädchen vor dem Schlafengehen beim Kämmen wie in eine Meditation versunken vor dem Spiegel sitzen. Er wünschte sich, er hätte ihr Vater sein und den Anblick jahrelang genießen können. Sie war groß und kräftig, vollbusig und stabil wie eine Volleyballerin, und sie ließ die anderen Studentinnen wie kleine Mädchen aussehen. Sie hatte einen Spiralblock dabei, in dessen Ringe sie einen Stift geschoben hatte – dem leichten Gepäck nach zu urteilen, war sie praktisch veranlagt und patent, was ihm auf Anhieb gefiel –, und sie stieg die Treppe übertrieben langsam herunter und pflanzte den Fuß bei jedem Schritt auf wie zum Vergnügen. Er bemerkte sofort, dass sie allein war. Sie strich sich das Haar aus den Augen und hinters Ohr, und dann drehte sie sich zu ihm um. Obwohl er sie unverhohlen angaffte, ließ sie sich nicht anmerken, ob sie ihn zur Kenntnis genommen hatte, was sie in seinen Augen zu einer noch cooleren Kandidatin machte. Ihre nussbraunen Augen hatten cremefarbige, fast hellgraue Einsprengsel, die ihrem Blick etwas Wölfisches verliehen.
    Möglicherweise würde dieses sein schlimmstes Seminar werden, dachte er, aber er würde keine einzige Stunde verpassen. Sie setzte sich auf einen Platz in der dritten Reihe, einen Block links von David. Sie zog den Stift aus der Spirale und begann, träge darauf herumzukauen wie ein Hund auf seinem Lieblingsspielzeug. David war inzwischen selbst in die Starre eines Vorstehhundes verfallen und klammerte sich in höchster Alarmbereitschaft mit beiden Händen am Klapptisch fest.
    Der Professor, Dr. Otto, kam hereingerauscht. Er war feingliedrig und sanftmütig, und seine Stimme war so leise, dass David sich unwillkürlich vorbeugte. Otto hatte schneeweißes Haar und einen leichten Bauchansatz, was ihn trotz seiner Größe und seines giacomettihaften Ausschreitens gebrechlich wirken ließ. Auf seiner großen, tropfenförmigen Nase saß eine Brille mit eckiger Fassung. Er wirkte gehetzt, vom eigenen Zuspätkommen aus der Fassung gebracht, blieb für eine Sekunde wie erstarrt stehen, zog die Fernbedienung des Projektors aus seiner Hosentasche, hielt sie in die Höhe und rief: »Ah!«, um dann mit dem Zeigefinger der anderen Hand in die Luft zu zeigen.
    »Hier eine wenig bekannte Tatsache, wenn es um Alfred Hitchcocks Filme geht«, sagte er, und alle verstummten, wobei die Streber die Stifte längst über dem Papier in Stellung gebracht hatten. »In jedem einzelnen davon tritt ein Huhn auf.« Einige Studenten tauschten verwunderte Blicke. Ein gut informiertes Grüppchen von Graduiertenstudenten brach links von David in wieherndes Gelächter aus. »Ja«, sagte der Professor, »ein Huhn. Die Entdeckung ist von mir, und ich bin noch nicht berühmt dafür, werde es aber sein, sobald mein Buch erschienen ist.« Sein leises Lachen klang beinahe wie ein Keuchen. »Ich nenne es die Hühner-Theorie. Auf Französisch: le poulet subtil . In jedem Film – nicht nur in den Filmen Hitchcocks, sondern in allen Filmen, die jemals gedreht wurden – taucht entweder ein echtes oder ein, wie ich es nenne, subtiles Huhn auf. Nun, ich weiß schon, was Sie als Nächstes fragen werden: Was ist ein subtiles Huhn? Ich werde es Ihnen verraten. Es kann sich zum Beispiel um ein sprichwörtliches Huhn handeln. Oder um einen psychischen Zustand. Manchmal sieht man

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