Mister Peanut
weißem Reis – sie war zurückgekommen, und er hatte Hunger, warum also nicht? –, während sie sich auf einer Untertasse eine Miniatur des Gleichen anrichtete. Seitdem sie den neuen, auf Erdnussgröße verkleinerten Magen hatte, nahm sie täglich neun dieser Minimahlzeiten zu sich. Und die Portionen schienen, ebenso wie Alice, täglich noch zu schrumpfen, während Pepin sich den Bauch vollschlug.
»Je mehr ich verschwinde, desto weniger esse ich. Vielleicht esse ich demnächst überhaupt nichts mehr.«
»Sag so was nicht.«
»Geh duschen«, sagte sie, »ich räume das weg.«
»Und dann?«
»Dann gehen wir ins Bett.«
Der Gedanke ängstigte ihn. Mit verschränkten Armen stand er unter der Dusche und wartete. Er hatte vor so langer Zeit zuletzt mit Alice geschlafen, dass er fürchtete, es verlernt zu haben; oder, schlimmer noch, nicht mehr von ihr begehrt zu werden, eine Angst, die ihn an die Monate nach ihren Fehlgeburten erinnerte, als schon sein Versuch, sie nachts im Arm zu halten, sie vor Schmerzen hatte stöhnen lassen. Er hatte nur einen Ausweg gesehen – sämtliche seiner Körperteile zurückzuziehen, Bauch und Schwanz, Kopf und Zehen und Seele, bis er in einem Panzer der Einsamkeit hockte, das Herz umhülst, auf unbestimmte Zeit verkapselt. Zudem fürchtete er, er könnte sich abgestoßen fühlen, wenn sie ihn küssen wollte.
Als er aus der Dusche kam, ein Handtuch um die Hüften, ein zweites um den Nacken, nahm sie ihn bei der Hand, zog ihn zum Bett und setzte sich hin. Als er sie so sanft in seine Richtung zog wie ein Fisch, der am Angelköder zupfte, stand sie auf, ergriff das eine Ende des Handtuchs um seinen Nacken und zog es herunter. Die nachwachsenden Härchen auf seiner Brust waren wie die Borsten einer Fliege. Sie zog ihm das Handtuch von der Hüfte. Er blieb schlaff stehen, war völlig gelöst, aber als sie sich vorbeugte, verspannte er sich, als fürchte er, gekitzelt zu werden oder in Tränen auszubrechen. Er kniff die Augen so fest zusammen, dass die Muskeln in seinen Wangen verkrampften. Er hörte Alice aus ihrem Kleid steigen, er hörte ihren BH aufschnappen und ihren Schlüpfer mit einem raschelnden Geräusch an ihren Beinen hinunterrutschen, und dann küsste sie ihn. Er musste Lippen und Mund bewusst entspannen, um dem Impuls zu widerstehen, nach ihrer Zunge zu schnappen.
Sie wiederum blieb sanft und beharrlich, küsste ihn still und ruhig, wie eine Katze, die Wasser aus einer Schüssel schleckt. »Küss mich«, flüsterte sie.
Sie küssten sich, und es war, als würde eine Sandburg von einer Welle überspült; die Zinnen an der Brustwehr zerschmolzen, die Türmchen stürzten ein, die Schießscharten kollabierten, die Wehrgänge rutschten ins Meer.
»Alice, ich habe dich so vermisst.«
Sie lagen nebeneinander, hielten sich an der Hand und starrten an die Decke.
»Wie bist du zum Ende gekommen?«, fragte sie.
Er schrieb über den Anfang.
Sie hatten sich in einem Filmseminar kennengelernt, »Hitchcock und die Ehe«.
Es war reiner Zufall gewesen. Um einen Abschluss in Informatik zu bekommen, musste David einige geisteswissenschaftliche Seminare belegen, eine Pflichtaufgabe, die er vor sich hergeschoben hatte. Im letzten Semester war das Hitchcock-Seminar eines von nur drei Seminaren, in denen es noch freie Plätze gab. Das zweite hieß »Feminismus und Schizophrenie in den Fünfzigerjahren«, und der Titel des dritten, es ging um die Arbeiten von Italo Calvino, sagte ihm gar nichts, auch wenn die studentische Hilfskraft am Einschreibetresen von dem Autor schwärmte und David ein paar Buchtitel aufschrieb. Aus irgendeinem Grund hatte David keinen einzigen Hitchcock-Film gesehen. Die aus Reportagen und Dokumentationen und Oscar-Zusammenschnitten bekannten Szenen waren ihm geläufig – die Frau in der Telefonzelle, die in Die Vögel von Möwen angegriffen wird, Jimmy Stewart, wie er in Fenster zum Hof das Teleobjektiv sinken lässt, Janet Leigh, die in Psycho unter der Dusche erstochen wird –, aber die Handlung der Filme war ihm unbekannt. Er hatte eine ganze Ära verpasst, was sich plötzlich wie eine schreckliche Wissenslücke anfühlte. Aus den Kursanforderungen zu schließen, würde das Ganze ein Spaziergang werden: eine Hausarbeit und regelmäßige Teilnahme an den Filmvorführungen und Diskussionen. Sich einen Film anzusehen und darüber zu reden, dachte David, war keine Arbeit, das war Erholung. Und doch sollten die Filme seine Sicht auf die Welt verändern, so wie
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