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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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den Kopf von Fahrer und Beifahrer erkennen.
    »Nehmen wir zum Beispiel diese Einstellung aus Der Mieter , einem Film aus Hitchcocks englischer Periode, herausgekommen im Jahr 1927. Ein verdächtiger Mann zieht in eine Pension ein. Ein hübsches Mädchen wohnt ebenfalls dort, mit ihrer Familie. Ihr Freund ist der Detektiv. Der Mieter könnte ein mysteriöser Serienmörder sein, der überall in London Frauen ermordet hat, oder auch nicht. Eben hat er wieder zugeschlagen und die gesamte Stadt in die höchste Alarmbereitschaft versetzt. Und um zu zeigen, dass die ganze Stadt auf der Hut ist, lässt Hitchcock dieses Taxi durch die Straße fahren …«
    Otto drückte auf Play. Das Auto schlingerte von rechts nach links, und die Insassen bewegten sich entsprechend. »Achten Sie darauf, wie sich die beiden Köpfe in der Heckscheibe bewegen, wie zwei Augen, die hin und her schauen, hin und her.«
    Sie sahen es sofort, trotzdem spulte Otto zurück und spielte ihnen die Szene ein weiteres Mal vor. »Mein Lieblingsbeispiel für reines Kino stammt natürlich aus einem Stummfilm. Der Held unternimmt eine Schiffsreise. Eines Abends betrinkt er sich während eines heftigen Sturms, das Schiff schwankt und schaukelt. Hitchcock zeigt das Deck, wo die Leute von rechts nach links geworfen werden, von links nach rechts. Aber was passiert, als der betrunkene Held erscheint? Er läuft in einer schnurgeraden Linie geradeaus.«
    Die Studenten lachten.
    »Mal sehen … Heute ist Einführungstag. Was müssen Sie sonst noch wissen? Ich habe dieses Seminar schon so oft abgehalten, dass ich mich nicht mehr darauf vorbereite. Ist das nicht traurig?« Otto reckte einen Finger in die Höhe. »Ah! Hitch hatte eine ausgeprägte Schwäche für derben Humor. Er liebte es, den Schauspielern oder der Crew übel mitzuspielen, er konnte ein richtiger Sadist sein, der Bahstahd . Meine Lieblingsanekdote: Er wettet mit einem Kameramann, dieser habe nicht den Mut, die Nacht allein am Set zu verbringen; er sei zu ängstlich, um bis zum nächsten Morgen durchzuhalten. Der Kameramann beißt an. Hitch sagt: ›Alles klar, aber nur um sicherzugehen, dass du hierbleibst, werde ich dich mit Handschellen an dieses Gerüst anketten.‹ Der Kameramann lässt sich darauf ein. ›Und weil ich ein netter Kerl bin‹, sagt Hitch, ›lasse ich dir eine Flasche Whisky da, zur Beruhigung deiner Nerven, wenn die Geister der Dunkelheit kommen.‹ Der Kameramann sagt, er brauche keinen Whisky, weil er nicht an Geister glaube. ›Noch nicht‹, sagt Hitch und kettet ihn an, und dann gehen alle nach Hause. Als sie am nächsten Morgen zurückkommen, liegt der Mann schluchzend und zähneklappernd in seinen eigenen Exkrementen. Hitch hatte den Whisky mit einem Abführmittel versetzt. ›Er hat sich vor lauter Angst vor den Geistern in die Hose geschissen‹, rief er.«
    Eine Welle lief durch den Saal, die Studenten sahen einander an. Wieder drehte Alice sich zu David um. Er fühlte seine Kinnlade herunterhängen wie die eines Idioten.
    »Hätte Hitchcock nun aus diesem kleinen Spaß einen Film gemacht«, erklärte Otto, »hätte er es natürlich spannend gemacht. Die Spannung war seine liebste Waffe. Meister der Spannung, so wurde er genannt. Kein Regisseur vor ihm und kaum einer nach ihm hat sein Publikum jemals wieder so sadistisch gequält, abgesehen von De Palma vielleicht. Kennt irgendeiner von Ihnen die Definition von Spannung?«
    Wieder sahen die Studenten sich um, und ein Mädchen rechts von David hob die Hand. »Spannung ist, wenn man darauf wartet, dass etwas passiert«, sagte es. »Man wartet ungeduldig.«
    »Meint ›man‹ die Filmfigur oder den Zuschauer?«
    »Den Zuschauer.«
    »Und warum können Sie es nicht erwarten?«, fragte Otto.
    »Weil«, sagte das Mädchen, »man auf etwas … Schlimmes wartet.«
    »Okay. Schlimm für wen?«
    »Die Figur.«
    »Einverstanden. Aber warum sollten Sie ungeduldig sein?«
    »Weil …«, antwortete sie. »Weil man nicht helfen kann.«
    »Und die Schauspieler?«
    »Na ja …« Sie überlegte kurz. »Die wissen von nichts.«
    » Genau «, sagte Otto. »Die wissen es nicht, Sie aber schon. Und auf diese Weise erzeugte Hitch Spannung. Es ist, wie er sagte, ganz einfach: Das Publikum muss informiert werden. Es muss etwas erfahren, das der Held nicht erfährt. Hätte er den Witz mit dem Kameramann verfilmt, hätten wir gesehen, wie Hitchcock Whisky in die Flasche füllt, das Abführmittel dazugibt, kräftig schüttelt. Wenn er sich dem Opfer

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