Mister Peanut
großen Dinge?
Sie könnten sich jetzt streiten, dachte Marilyn, aber sobald sie einmal angefangen hätten, würde sich das Ganze zu einer Diskussion hochschrauben, die nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war; sie würden sich gegenseitig in jene Stimmung zurückkatapultieren, in der sie sich vor wenigen Wochen befunden hatten, was sie auf keinen Fall wollte. Darin, dachte Marilyn, bestand die Kunst: sich nicht zurückkatapultieren zu lassen.
»Du hast recht«, hatte sie an jenem Abend also gesagt.
Marilyn stand am Fenster und schaute den Jungs nach, die über den Strand liefen und dann verschwanden. Sie rieb sich mit den Handballen die Augen, strich sich das Haar hinter die Ohren und schaute aufs Wasser hinaus. Der Tag war perfekt. Nicht wegen der lauen Brise oder der trockenen Luft, sondern wegen der fast schmerzhaften Klarheit des Lichts – weißes Licht, dachte sie, wie im August. Sie hatte das Gefühl, dass sie alles sehen konnte. Sie konnte sogar den Mann erkennen, der im mehrere Hundert Meter entfernten Huntington Park auf dem Uferparkplatz in seinem weißen Lieferwagen saß und von der Schönheit des Tages wohl ebenso beeindruckt war wie sie. An Tagen wie diesem wirkte der Strand tropisch hell und das Wasser unglaublich blau, am Himmel hingen Fetzenwolken, und die Sandkörner reflektierten das Gleißen. Man konnte kaum direkt hinsehen. Als der Wind in die Blätter vor dem Fenster im ersten Stock fuhr, klang es, als wäre das Haus ein ablegendes Segelschiff.
Wo soll ich anfangen?, fragte sie sich.
Im Zimmer nebenan rumste es, dann war ein lang gezogenes Stöhnen zu hören. Sams Freund Lester Hoversten war aufgewacht. Die Vorstellung, den Vormittag mit diesem Mann zu verbringen, war so unangenehm, dass es Marilyn kurzzeitig gelungen war, seine Anwesenheit zu verdrängen. Nun zu hören, wie er stöhnte und sich im Bett ausstreckte, trug zu Marilyns Enttäuschung noch bei: Auch er war eine von Sams verkündeten Tatsachen. »Les hat seinen Job verloren«, hatte Sam gesagt, als er am Mittwochmorgen auf dem Weg zur Arbeit in der Küchentür stand und ihr bereits den Rücken zukehrte. »Er wird für ein paar Tage bei uns unterkommen müssen.«
Es war feige, sie erst in letzter Minute zu informieren, eine Ohrfeige zum Abschied. »Du hast Lester zu uns eingeladen?«, fragte sie.
»Er ist ein Kollege, Marilyn, und er braucht meine Hilfe.«
»Herrje, Sam, du tust so, als hätten wir bloß eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt.«
»Aus Les’ Perspektive war es wohl auch nicht mehr als das.« Er ließ die Fliegentür zufallen und ging zu seinem Auto.
Marilyn wollte ihm schon nach draußen folgen, als Chip in die Küche geschossen kam und mit seinem gesamten Körpergewicht gegen ihre Beine krachte, sich an ihren Shorts festkrallte, sich an sie hängte und sie damit aufhielt. Es war, als bildeten er und sein Vater ein Team. Sie kniete nieder, um auf den Jungen einzureden. »Du bist zu alt für so was«, sagte sie und schüttelte seine Arme.
Sams schwarzer Umriss tauchte noch einmal hinter der Fliegentür auf.
»Wie konntest du so rücksichtslos sein?«, fragte sie.
Aber da stand Dick Eberling, der Haus- und Fensterputzer. Er war ebenso groß und von ähnlicher Statur wie ihr Mann, wurde sogar auf ähnliche Art kahl. Tatsächlich ähnelte er Sam auf unheimliche Weise. Er blieb betreten und mit gesenktem Kopf hinter der Tür stehen.
Sams Auto rollte aus der Einfahrt.
»Oh«, sagte sie und schlug sich eine Hand vor die Stirn, »das tut mir leid, Dick. Ich habe Sie für Sam gehalten.«
Offensichtlich erleichtert, hob Eberling den Kopf und sah sie lächelnd an. »Es tut mir leid, Mrs. Sheppard, ich hätte anklopfen sollen.«
Hoverstens Stimme riss sie aus der Erinnerung.
»Gibt’s Kaffee?«, fragte er durch die Wand hindurch.
Marilyn beeilte sich, sich anzuziehen – auf gar keinen Fall würde er sie im Nachthemd zu sehen bekommen! –, und eilte hinunter.
An einem Morgen wie diesem vor genau zwei Jahren, als Sam im Krankenhaus war und Chip noch schlief, hatten sie und Lester Hoversten ihre »Meinungsverschiedenheit« gehabt. Er war gute zehn Jahre älter als Marilyns Ehemann, hatte aber dennoch mit ihm zusammen in Kalifornien Medizin studiert; ihre langjährige Kumpanei war nicht nur deswegen so ärgerlich für sie, weil Lester fraglos ein Versager, Alkoholiker und Schürzenjäger war, der die Krankenschwestern so ungeniert anmachte, dass sie sich weigerten, allein mit ihm in einem Raum zu sein. Er
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