Misterioso
kleinen Jungen, der identisch mit dem seines Vaters war.
Es dauerte eine Weile, bis Paul Hjelm die Ermittlung wiederaufnehmen konnte.
Einige Tage später platzte Viggo Norlander mitten in einen Vormittagsdurchlauf in der Kampfleitzentrale. Der eigentlich noch Krankgeschriebene humpelte auf zwei Krücken herein. Sein ohnehin schon ausdrucksloser Blick wirkte noch leerer. Die Hände steckten in Mullbinden. Seine Kollegen begrüßten ihn herzlich. Kerstin Holm lief nach draußen und holte den Blumenstrauß, für den sie gesammelt hatten und den sie ihm am Abend hatten vorbeibringen wollen. Offensichtlich aufrichtig gerührt, setzte Norlander sich auf seinen Platz.
Während der Zeit im Tallinner Krankenhaus und später in Huddinge war er sicher gewesen, dass Hultin ihn von den Ermittlungen ausgeschlossen hatte und dass man ihn womöglich zur Verantwortung ziehen würde. Als er auf seinen Stuhl sank, begriff er, dass ihm verziehen worden war. Ihm fiel kein passenderer Ausdruck ein. Er machte keinen Hehl daraus, dass ihm die Tränen kamen.
Er machte den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Die anderen fragten sich, ob er sich je ganz erholen würde. Aber als er den Kopf hob und sie mit rotgeränderten Augen anschaute, sahen sie, dass er Tränen der Rührung und der Freude weinte. Je länger sie sich kannten, desto schwieriger wurde es paradoxerweise, einander zu verstehen.
Im Hinausgehen sah Hjelm aus dem Augenwinkel, wie Söderstedt zu Norlander ging, ihm einen Arm um die Schultern legte und etwas sagte. Worauf Viggo Norlander laut und herzhaft lachte.
Fortschritte hatte es keine gegeben. Inzwischen gingen sie hundertprozentig von der Hypothese aus, dass die Mordserie beendet war und dass die schwedische Wirtschaftswelt mit einem Minus von drei, und nur diesen drei Mitgliedern würde auskommen müssen: Kuno Daggfeldt, Bernhard Strand-Julén und Nils-Emil Carlberger. Sie irrten sich.
19
Der Rauch hat sich verzogen, der stechende Geruch ist verschwunden. Der Mann hat sich endlich zur Ruhe gelegt.
Diesmal hat es ziemlich lange gedauert.
Es war ein langer Tag.
Jetzt ist Nacht.
Nacht im Wohnzimmer.
Er sitzt zurückgelehnt auf dem Sofa und betrachtet den Mann, während die ersten Klavierklänge den Raum erkunden, Wanderungen die Tastatur hinauf und hinab. Das Saxophon schließt sich dem Klavier an, die gleichen Sprünge, der gleiche Spaziergang.
Als das Saxophon ausbricht und das Klavier im Hintergrund seine verhaltenen Akkorde ausstreut, kommt es ihm fast so vor, als richte der Mann sich auf. Ein paar kurze Trommelwirbel. Und als das Saxophon jenseits der Harmonien zu fiepsen beginnt, ist es, als erhöbe sich der Mann und wende sich dem leeren Raum vor ihm zu. Das Saxophon stößt zu, schlägt um sich, windet sich immer höher hinauf. Aus dem Kopf des Mannes rinnt Blut. Es ist, als ramme er dem leeren Raum vor sich die geballte Faust in den Magen. Als das Klavier verstummt, folgt ein zweiter, härterer Schlag in den leeren Raum.
Es ist eine Pantomime, ein eigenwilliger Totentanz.
Yeah, u-hu. Der erste Tritt. Gegen das Knie.
Das Saxophon wird immer schneller, klettert immer höher hinauf.
Ay. Der zweite Tritt. In den Unterleib.
Eine strenge Choreographie. Jeder Schlag, jeder Tritt exakt an der gleichen Stelle.
Er hat diesen Tanz schon so oft gesehen.
Und mit dem Einsetzen des Applauses kommt der Faustschlag. Gemurmel im Publikum, das Klavier übernimmt die Führung. Genau an dieser Stelle kommt der Schlag. Die Zähne rollen lose unter der Zunge hin und her, und genau an dieser Stelle passiert es. Genau an dieser Stelle.
Das Klavier tastet sich unsicher vor. Dann legt es los, immer freier, immer schöner. Endlich hat er die Schönheit darin erkannt. Der Mann tritt gegen den am Boden liegenden leeren Raum, tritt einmal, zweimal, dreimal, viermal zu. Dazu verhaltene Klavierklänge. Der leere Raum existiert nicht mehr.
Der Bass verstummt. Das Klavier nimmt seine Wanderungen wieder auf. Wie am Anfang.
Als die Tür zur Eingangshalle geöffnet wird, setzt der Mann gerade zum fünften Tritt an.
»Papa?« ruft eine Mädchenstimme.
Der Mann sackt in sich zusammen und liegt reglos am Boden. Genau wie vorher.
Da ist er längst aus dem Raum, aus dem Haus, aus dem Garten.
Er ist so weit weg, dass er den herzzerreißenden Schrei nicht hören muss.
20
Gunnar Nyberg wurde in dem hoffnungsvoll stehen gelassenen Doppelbett in seiner Dreizimmerwohnung in Nacka aus dem Schlaf gerissen, Viggo Norlander in
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