Mit 50 hat man noch Träume
tiefer Stimme vorgetragen wurde. Bruni sah sich verwundert
um. Sie schien die Einzige im Lokal zu sein, die sich nicht westernmäßig herausgeputzt hatte. Die Frauen trugen Röcke, darunter zum Teil Petticoats, als
Oberteile Corsagen, und dazu kleine, spitze Stiefelchen. Die Männer hatten allesamt
Jeans und Flanellhemden an, ihre Hüften wurden von Gürteln mit großen, maskulin
wirkenden Schnallen betont. An den Füßen trugen sie Cowboystiefel, die allerdings
nicht so aussahen, als seien sie meilenweit darin gelaufen. Die Schuhe waren ordentlich
poliert. Diejenigen, die nicht tanzten, lehnten mit coolem Blick, einen Drink in
der Hand, an einem Pfosten und beobachteten die Menschen auf der Tanzfläche.
Bruni schätzte
die meisten Gäste hier auf mindestens 50. Immerhin, meine Altersklasse, dachte sie
und ein Lächeln ging über ihr Gesicht.
Da träumte
sich die Ü-50-Generation Altenahrs und Umgebung also ihr Leben schön, indem sie
sich kostümierte und sich für ein paar Stunden gedanklich in Amerikas Westen versetzte.
Auch das war Glück. Warum nicht, das Wichtigste war doch, dass man seinen Spaß hatte.
Unwillkürlich verzog Bruni leicht den Mund. Sie spürte, wie die Blicke der Männer
sie streiften und gleichmütig an ihr abglitten als wäre sie ein überflüssiges Utensil,
das keinen zweiten Blick lohnte.
Wang Sanschien sie noch nicht bemerkt zu haben, da er sich voll und ganz auf die Schrittfolgen
konzentrierte.
Sie setzte
sich nahe der schwingenden Saloontür an einen freien Tisch, bestellte eine Cola
und einen Maiskolben, sog neugierig die Atmosphäre des Western Saloons in
sich auf und sah sich um. Überall Kuhfellimitat. Die Polster der Stühle waren damit
bezogen und selbst die Lautsprecherboxen an der Wand präsentierten sich schwarzweiß
gefleckt. Die Lampen, die über den Tischen hingen, erinnerten vom Stil her an Gelsenkirchener
Barock, interessanterweise waren die Schirme aber ebenfalls mit einem Saum aus Kuhfellimitat
verziert, was bewies, dass sich hier wirklich jemand Gedanken gemacht hatte. Da
können wir für das ›Ahrstübchen‹ ja noch etwas lernen, dachte Bruni und musste unwillkürlich
grinsen: Wenn das mal kein Kultpotenzial hat.
Die grünen
Leuchtstoffröhren an der Wand, die zu Kakteen geformt waren und Bilder aus Texas
in ihr hervorriefen, weckten ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm sich vor, den Wirt danach
zu fragen, wo man sie kaufen könne. Vielleicht sogar im zum Lokal gehörigen Westernshop, der ein Stockwerk höher lag, wie sie bei der Ankunft gesehen hatte.Sie
musterte die kleinen, papiernen Flaggen einzelner amerikanischer Bundesstaaten,
die auf den Tischen wehten und versuchte, sie im Geiste richtig zuzuordnen, anschließend
richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tanzfläche. Es dauerte nur einen
Moment, und das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb.
Zu Wang
San hatte sich eine Frau gesellt, eine Frau, die sie kannte. Gut kannte. Caro .
Bruni fühlte, wie ihr das Blut in den Adern stockte. Wang San und Caro hatten nebeneinander
Stellung bezogen, sie tanzten in einer Reihe, dicht an dicht, und ganz offensichtlich
taten sie dies nicht zum ersten Mal. Ihre Bewegungen waren aufeinander abgestimmt
in einer Harmonie, die Bruni erschauern ließ. Wie aus weiter Ferne vernahm sie plötzlich
eine Stimme, die fragte:
»Darf ich
mich zu dir setzen?« Bruni sah zur Seite. An ihrem Tisch stand Lilly, Caros Tochter,
die heute nach Altenahr gekommen war, um ihre Mutter zu besuchen.
»Gern, natürlich«,
antwortete sie zerstreut und lächelte schwach. »Sag mal, macht deine Mutter das
schon lange?« Sie wies mit einer Kopfbewegung Richtung Tanzfläche.
»Line Dance?«
Bruni nickte.
»Weißt du
das nicht? Seit Kurzem besucht sie einen Kurs, zusammen mit diesem Chinesen da,
glaube ich.«
Bruni fühlte
sich auf einmal, als bekomme sie keine Luft mehr und könne nicht mehr sprechen.
Die Worte verschwanden in der Tiefe ihrer Seele, und die Schwärze, die sich vor
ihren Augen ausbreitete, wich nur langsam der Wirklichkeit, die sie entrückt wie
durch das Netz eines Fliegengitters wahrnahm. Wie angewurzelt saß sie auf ihrem
Stuhl. Warum hatte Caro ihr nichts davon erzählt? Und warum hatte Wang San nichts
gesagt? Hatten die beiden etwas zu verheimlichen? Brunis Magen fühlte sich an, als
sei er ein einziger Knoten. Die Maiskolben wurden gebracht, aber sie schob den Teller
weit von sich.
»Magst du
vielleicht?«, wandte sie sich an Lilly, die freudig nickte. »Bevor es schlecht
Weitere Kostenlose Bücher