Mit 50 hat man noch Träume
»Pressefutter.«
32
Alle im Hause der Familie Wang waren
sprachlos.
Als Wang
Ai die Graffiti Chinesen raus! und den Totenkopf an der Hauswand betrachtet
hatte, war sie innerlich steif geworden. Die Zeichnung hatte sich in ihr Gehirn
gebrannt, und ihr Anblick ließ sie frösteln. Ihr Onkel hüllte sich in Schweigen,
er hatte den ganzen Vormittag kein Wort von sich gegeben, und auch seine Singvögel
schienen nicht mehr so laut zu zwitschern wie zuvor. Bei der Vorbereitung des Mittagessens,
zu dem sie 100 Personen erwarteten, herrschte in der Küche dumpfes Schweigen. Wang
San putzte das Gemüse mit unbeweglichem Gesicht, Lao Wang schuppte den Fisch, ohne
auch nur einmal aufzublicken und ihre Tante wusch verbissen wieder und wieder den
Reis, als würde er dadurch weißer werden. Selbst Wang Yis Kinder waren am Morgen,
bevor sie sich auf den Schulweg machten, verhältnismäßig still gewesen.
Als wäre
es noch nicht genug. Dies war der Satz, den Lao Wang irgendwann vor sich hin murmelte. Als wäre es noch nicht genug.
Fragend
sah Wang Ai zu ihrem Cousin Wang San, der sie beiseite nahm und ihr leise von den
Schikanen erzählte, denen sie bislang ausgesetzt waren, und sie hatte das Gefühl,
sie müsse dringend an die frische Luft. Sie organisierte sich einen Eimer mit Wasser,
Lösungsmittel, einen Schwamm und eine Bürste und verließ das Haus. Verbissen begann
sie damit, die Graffiti von der Hauswand zu waschen. Einige Journalisten hatten
bereits Fotos gemacht, aber nun war es wichtig, dass mit dem Eintreffen der chinesischen
Reisegruppe alle Spuren beseitigt waren.
Während
Wang Ai die Wand schrubbte und an der Schrift herumkratzte, ging ihr vieles durch
den Kopf. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich ein Auslandsstipendium
beantragen sollte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein Jahr in Köln zu studieren,
aber inzwischen fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee war, in Deutschland
zu bleiben. Außerdem würde sie im Fall eines Auslandsstudiums auf Fußball verzichten
müssen, und das fiele ihr schwer, denn der Ballsport hatte einen ebenso festen Platz
in ihrem Leben wie ihre Familie.
Ihre Mutter,
eine Deutsche, befürwortete den Auslandsaufenthalt, denn der Gedanke, dass ihre
Tochter ihre alte Heimat kennenlernen würde, wärmte ihr Herz, und nirgendwo konnte
man besser Germanistik studieren als in Deutschland. Außerdem hatte Wang Ai die
besten Voraussetzungen: In Altenahr lebten die Verwandten väterlicherseits, in Köln
ein Bruder ihrer Mutter. Sie befände sich also mehr oder weniger im Schoß der Familie
und wäre in Deutschland gut aufgehoben.
Doch war
Wang Ai sich nicht sicher, ob man ihr zu Hause in China überhaupt ein einjähriges
Visum erteilen würde. Seit zwei Jahren gehörte sie zum Kader der chinesischen Nationalmannschaft.
Wang Ai
trat drei Schritte zurück und betrachtete mit schief gelegtem Kopf die Wand, ein
Großteil der Farbe war bereits weitgehend entfernt. Sie presste die Lippen aufeinander.
Sollte sie den Antrag für das Auslandsstudium nach ihrer Rückkehr in Shanghai wirklich
stellen?
Ihre Cousine
Mei Ling war von der Idee völlig begeistert. Sie hatten bereits Pläne geschmiedet
und überlegt, sich in Köln eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, doch diese Worte an
der Wand hatten schlagartig ein anderes Licht auf ihre Pläne geworfen. Wollte sie,
und sei es auch nur für ein Jahr, in einem Land leben, in dem Chinesen wie auch
andere Ausländer verhasst waren? Gut, sie wusste, Fremdenfeindlichkeit gab es überall
auf der Welt, manche ihrer eigenen Landsleute sahen insbesondere auf Schwarze herab,
aber sie war noch nie zuvor persönlich damit konfrontiert worden.
Sie holte
tief Luft und betrachtete den Totenkopf und den Schriftzug Emanzen raus! am Haus gegenüber, die Kölnerinnen hatten ihn nicht entfernt, und so sprang er ihr
immer noch genauso schwarz und bedrohlich ins Auge wie vor ein paar Stunden. Wang
Ai schüttelte unmerklich den Kopf. Offensichtlich waren hier nicht nur Ausländer
unbeliebt, sondern auch Frauen.
Sie beobachtete,
wie ihre Tante mit schlurfenden Schritten aus der Hintertür trat und sah zu, wie
sie einen Fisch in den Teich vor dem Tempel gleiten ließ, um ihn vor dem sicheren
Wok-Tod zu retten.
Über ihr
Gesicht glitt ein Lächeln. Die Familie war abergläubisch. Sie dachte an ihre Haustür,
an deren oberer Hälfte ein kleiner Spiegel angebracht war, der dazu diente, die
bösen Geister fernzuhalten, und auf einmal verdunkelte ein Schatten ihr
Weitere Kostenlose Bücher