Mit 50 hat man noch Träume
Gesicht.
Der Spiegel hatte nichts genutzt. Ihre Tante würde eine Menge Papiergeld opfern
müssen, um die bösen Geister, die ihnen Unheil gebracht hatten, zu besänftigen.
Der Ahnenkult
der Chinesen beruhte auf der Annahme, dass der Mensch zwei Seelen besitzt. Die eine
wird im Augenblick der Empfängnis geboren und lebt nach dem Tod des Körpers bei
dem Leichnam im Grab, wo sie sich von den dargebrachten Opfern ernährt. Wenn der
Leichnam sich aufgelöst hat, geht diese Seele ein in die Unterwelt, wo sie ein Schattendasein
führt. Werden ihr keine Opfer gebracht, kehrt sie als böser Geist auf die Erde zurück.
Die zweite
Seele war eine höhere, geistige Seele, die sich erst nach der Geburt eines Menschen
entwickelte, ihn schützte und begleitete.
Wang Ai
sah sich um. Wenn es sie denn gab, wo waren die guten Seelen verdammt noch einmal
geblieben?
Mit Nachdruck
wrang sie den Schwamm aus und begutachtete die Wand. Von der Schrift und dem Totenkopf
war fast nichts mehr zu erkennen. Ein letztes Mal wischte sie darüber, dann ließ
sie den Schwamm schwungvoll ins Wasser fallen und schlenderte hinüber zum Fischteich.
Sie setzte sich auf den Rand, und ließ seufzend langsam den Blick umherschweifen.
Als er über den Eingang des Tempels glitt, hielt sie inne. Hatte dieser große Stein
dort gestern schon gestanden? Sie hatte ihn jedenfalls nicht bemerkt. Vermutlich
hatte ihr Onkel ihn heute Morgen dort aufgestellt. Er war rund und hoch, nach oben
hin wurde er etwas schmaler, und irgendwie wirkte er auf sie, als trage er Jahrtausende
altes, profundes Wissen in sich.
Neugierig
stand sie auf und trat näher an ihn heran, und während sie die schön geschwungenen
Zeichen las, die auf seine raue Oberfläche gepinselt waren, breitete sich ein Lächeln
auf ihrem Gesicht aus, denn auf dem Stein stand geschrieben: Wenn ich einen grünen
Zweig im Herzen trage, wird sich bald ein Singvogel darauf niederlassen.
Ihr Onkel
war wirklich gut.
33
Ein Stapel Koffer versperrte den
Flur. Taschen, aus denen Bücher und Anoraks quollen, standen ungeordnet daneben,
und Mr. Fred und Sappho schlichen mit eingezogenen Schwänzen vorsichtig schnuppernd
darum herum. Als die Schlafzimmertür aufflog und Bruni mit festem Schritt, der ihre
Entschlossenheit dokumentierte, herauseilte, sprangen die Hunde mit einem Satz beiseite.
»Was hast
du vor?«, fragte Caro, die gerade die Treppe herauf kam, erschrocken. Ihre Augen
weiteten sich vor Entsetzen, als sie die gepackten Koffer sah. »Das kann doch nicht
dein Ernst sein!«
»Oh doch«,
antwortete Bruni und machte sich an einer Tasche zu schaffen. Offenbar klemmte der
Reißverschluss.
»Bruni,
ich verstehe das nicht, was ist los?« Caro ließ fassungslos die Arme hängen, dann
trat sie näher und legte vorsichtig eine Hand auf Brunis Schulter.
Bruni schüttelte
sie mit einer unwirschen Bewegung ab und schimpfte ärgerlich: »Ich habe einfach
keine Lust mehr. In Köln geht es mir tausendmal besser. Mir fehlt die Uni-Bibliothek
und der fachliche Austausch, bei euch dreht sich doch alles nur um Kohlrouladen.«
Caro strich
sich mit der Hand über die Stirn.
»Und die
Frage, wer aus dem Ort ist bei uns eingekehrt und wer nicht«, fügte Bruni bitter
hinzu. »Naja, von dem Engagement für die Wangs einmal abgesehen …«, räumte sie ein.
Caro fühlte
sich wie vor den Kopf gestoßen. Intuitiv erfasste sie, dass Brunis Vorhaben abzureisen
auch mit ihr und Wang San zu tun hatte. »Ist wirklich alles besser in Köln?«
Bruni registrierte
mit einem schnellen Seitenblick, dass Caro kreidebleich geworden war, und sie spürte
eine gewisse Genugtuung. Mit Nachdruck antwortete sie: »Mein ganzes Umfeld. Ich
kann mich dort auf meine Arbeit konzentrieren und muss mich unter anderem nicht
mehr mit so wichtigen Fragen, wie hoch und steif Schaumkronen zu sein haben, auseinandersetzen
…«
»Und?« Caro
sah sie forschend an.
»… ich erfahre
dort mehr Wertschätzung und echte Freundschaft«, vollendete Bruni den Satz.
»Bruni.«
Caro atmete tief durch, dann sagte sie: »Hey! Tu das nicht. Wir sind Freundinnen!«
Bruni schwieg.
»Oder etwa
nicht?« Caro spürte, wie ihre Stimme versagte.
»Bei dir
bin ich mir nicht so sicher.« Bruni sah Caro mit einem kühlen, sehr distanzierten
Blick an und sagte: »Wertschätzung und Freundschaft stellen sich in meinen Augen
anders dar. Sie zeichnen sich aus durch gegenseitige Zuneigung und tiefes Vertrauen,
was ich bei dir leider vermisse.«
Mit einer
fahrig
Weitere Kostenlose Bücher