Mit 80 000 Fragen um die Welt
eine Art Kölner Karneval.
Jetzt wissen wir, was unter Madagaskar liegt. Aber was liegt davor? Man vermutet, dass der Gassenhauer «Wir lagen vor Madagaskar» auf den Russisch-Japanischen Krieg Anfang des vergangenen Jahrhunderts zurückgeht. Ein russisches Pazifikgeschwader hat angeblich vor Madagaskar gelegen, in den Kesseln faulte tatsächlich das Wasser, und viele Russen sollen über Bord gegangen sein. Heute kann ich keine Russen vor Madagaskar erkennen. Nur französische Sextouristen.
Wer auf Madagaskar nicht mehr weiterweiß, der reist an den See Mangatsa, er liegt nur ein paar Kilometer von Mahajanga entfernt und ist eigentlich nur ein kleiner Teich. Aber der ist heilig. Sein Wasser ist türkisfarben, und darin schwimmen die größten Goldfische, die ich je gesehen habe. Auch sie sind heilig, ein Wachmann behält sie 24 Stunden lang im Auge. Am Ufer von Mangatsa stehen hohe Bäume, an denen rote, weiße und grüne Tücher und Köpfe von Zebu-Ochsen hängen. Die Baumstämme sind mit Blut beschmiert. Es heißt, man könne an diesem Ort seine Ahnen befragen. Sogar hohe Politiker sollen das tun – genützt hat es offenbar wenig.
Ich will dem See trotzdem eine Chance geben, setze mich auf einen Stein, betrachte die Fische im glasklaren Wasser und rufe meinen Urgroßvater Heinrich Gastmann. Ich habe diesen Mann niemals kennengelernt, und er sollein furchtbarer Tyrann gewesen sein, noch dazu geizig und launisch. Ein schöner Satz ist von ihm überliefert: «Unter mir kann jeder nach meiner Façon glücklich werden!» Nein, Heinrich war kein guter Mensch, aber eins muss man ihm lassen: Er wusste immer, wo es langgeht.
«O Uropa Heinrich», brummele ich und schließe meine Augen. «Keine Sorge, ich will kein Geld. Gewähre mir nur einen Funken deiner unendlichen Weisheit. Wer liegt vor Madagaskar?»
Stille.
«Weeeer liegt voooor Madagaskar?»
Wieder nix.
«Opa Heinrich, mal im Ernst: Weeeer liegt vooooor Madagaskar?»
«Geh in den Wald!»
«Bitte?»
«Spreche ich Spanisch? Geh in den Wald!!!»
«Heinrich, bist du es?»
«Nein, der Weihnachtsmann. Und jetzt geh in den Wald und lass mich in Ruhe. Ach ja: Grüße an die Familie.»
Der alte Heinrich. Auf den Schock erst mal eine Malariatablette. Ich werfe noch einmal einen Blick auf den Beipackzettel. Nach «seltsame Träume einschließlich Albträumen» ist noch eine weitere Nebenwirkung beschrieben: «Hallu zinationen . Sehen und Hören von Dingen, die gar nicht da sind.» Ob manche Menschen auch Dinge nicht sehen, die eigentlich da sein sollten?
Ich will in den Wald gehen, aber finde den Wald nicht. Sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht? Nein, ich sehe nicht mal Bäume. Eigentlich nennt man Madagaskar die «grüne Insel», aber so weit ich auch fahre – ich kann nichts Grünes entdecken. Kahle Hügel, nackte Täler, kalte Asche.Die Flächen im Hinterland von Mahajanga sind vollständig abgeholzt oder verbrannt. Man sagt, dass die Insel einmal ganz mit Wald bedeckt war – heute soll nicht mal mehr die Hälfte davon übrig sein. Und ich entdecke an diesem Tag kein einziges Stückchen Wald. Sorry, Uropa.
Was geht hier vor? Das geht hier vor: Weil die korrupten Regierungen des Landes den Madegassen seit eh und je nichts zu fressen geben, frisst das Volk eben Madagaskar. Die Bauern verbrennen den Regenwald, um Weideland zu schaffen, mit der Holzkohle machen die Madegassen Feuer, und die Fischer schmuggeln das Holz, um es irgendwo zu verkaufen. Ahoi, Kameraden.
Und immer bei Ebbe färbt sich die See vor Madagaskar tiefrot.
«Das ist ein Zeichen für die starke Erosion auf Madagaskar», sagt Monsieur Mahatsara, im Auftrag der Regierung schützt er Wald und Wasser. Na ja, er versucht es.
«Weißt du, in zehn oder zwanzig Jahren wird es hier keine Wälder mehr geben. Und wenn es keinen Wald mehr gibt, rutscht der rote Ackerboden in die Flüsse. Schon bald werden die Madegassen noch mehr Hunger leiden. Und Madagaskar fließt nach und nach ins Meer.»
Herr Mahatsara zuckt mit den Schultern. Was soll er auch tun? Die Regierung wechselt alle paar Monate, und die Präsidenten sollen auch gerne mal selbst am Holzschmuggel beteiligt sein, heißt es.
«Dann liegt also Madagaskar vor Madagaskar?»
«Genau. Madagaskar liegt vor Madagaskar.»
Ach ja: «Mahatsara» bedeutet übrigens «Mach’s gut!». Herr Machsgut, der Naturschützer, muss sich langsam von Madagaskar verabschieden.
«Madagaskar fließt langsam ins Wasser,
die Flut nimmt sie alle
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