Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Ausgeschlossenheit erinnerte, die Aufregung nicht wert schien.
»Hat Chris dir erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?«
»Nicht direkt. Nicht im Einzelnen.« Gar nichts hatte er ihr erzählt.
»In einer Single-Gruppe für Geschiedene. Nachdem ich gerade ganz frisch entdeckt hatte, dass ich mit Annabelle schwanger war. Bei so einer Scheidung macht man zum Teil verrückte Sachen, weißt du - und bei einer davon kam eben Annabelle raus, stimmt’s, Mäuslein?« Sie küsste das Kind aufs Haar.
Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, dachte Olive. Es ist nicht so, als müsste man noch vatikanisches Roulette spielen. Aber erleichtert, wie sie immer noch war, sagte sie mit geheuchelter Großmut: »Das ist eine gute Idee, eine Single-Gruppe für Geschiedene.« Sie nickte. »Da hat man so viele gemeinsame Erfahrungen.« Sie hatte einmal an einem Treffen einer »Selbsthilfegruppe« im Pflegeheim teilgenommen und es von hinten bis vorn schwachsinnig gefunden: schwachsinnige Leute, die schwachsinniges Zeug von sich gaben, inklusive der Sozialarbeiterin, die das Treffen leitete und mehrmals mit sanfter, beruhigender Stimme sagte: »Es ist völlig normal, dass Sie mit Wut reagieren.« Olive war kein zweites Mal hingegangen. Wut, dachte sie verachtungsvoll. Wozu Wut empfinden über einen natürlichen Vorgang, Himmelherrgott! Sie hätte die Sozialarbeiterin an die Wand klatschen können, und den erwachsenen Mann neben ihr, der laut seine dahinvegetierende Mutter beweinte, gleich mit. Schwachsinn, alles miteinander. »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, hätte sie am liebsten gesagt. »Was glaubt ihr eigentlich?«
»Es war eine Therapie-Gruppe«, sagte Ann. »Wo wir gelernt haben, uns unserer Eigenverantwortung zu stellen und mündig mit Konfliktsituationen umzugehen, verstehst du.«
Olive verstand nur Bahnhof. Sie sagte: »Christopher hat die falsche Frau geheiratet, so einfach ist das.«
»Aber die Frage ist, warum«, erklärte Ann eifrig und zog das Baby ein Stück höher. »Wenn wir die Beweggründe für unser Handeln begreifen, können wir aus unseren Fehlern lernen.«
»Aha«, sagte Olive. Sie streckte die Füße und spürte das weiche Schlurren einer neuen Laufmasche. Sie musste zusehen, dass sie in einen Drogeriemarkt kam.
»Es war echt großartig. Chris und ich haben uns beide voll in den Lernprozess eingebracht, und das hat uns zusammengeführt.«
»Wie schön«, sagte Olive nach einer Weile.
»Der Therapeut heißt Arthur, und er ist einfach genial. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel wir bei ihm gelernt haben.« Ann rubbelte den Rücken der Kleinen mit dem Geschirrtuch und sah zu Olive herüber. »Angst hat mit Wut zu tun, Mom.«
»Tatsächlich?« Olive dachte an Anns Zigaretten.
»Mhm. Fast immer. Als Arthur nach New York gegangen ist, sind wir auch hergezogen.«
»Ihr seid hier wegen einem Therapeuten?« Olive setzte sich kerzengerade hin in ihrem Liegestuhl. »Ist das ein Kult?«
»Nein, nein. Wir wollten sowieso hierherziehen, aber so ist es noch genialer, weil wir mit Arthur weiterarbeiten können. Es gibt immer jede Menge Themen, an denen man arbeiten kann, weißt du.«
»Bestimmt.«
Das war der Moment, in dem Olive bei sich beschloss, alles zu akzeptieren. Beim ersten Mal hatte Christopher eine aggressive, egoistische Frau geheiratet, beim zweiten Mal eine, die dumm, aber nett war. Ihr konnte das egal sein. Es war sein Leben.
Olive ging in den Keller hinunter, um zu telefonieren. »Wie geht’s?«, sagte Cindy.
»Gut. Andere Länder, andere Sitten. Können Sie ihn mir geben?« Sie klemmte den Hörer mit der Schulter ein, fing an, sich die Strumpfhose vom Fuß zu schälen, und erinnerte sich dann wieder, dass es ihre einzige war. »Henry«, sagte sie, »sie haben heute Hochzeitstag. Es läuft so weit gut, aber sie ist dumm, genau wie ich dachte. Sie sind bei einem Therapeuten.« Sie zögerte, sah sich um. »Aber keine Sorge, Henry. Bei einer Therapie geht es ausschließlich der Mutter an den Kragen. Du bleibst völlig ungeschoren, da bin ich sicher.« Olive trommelte mit den Fingern auf der Waschmaschine. »Ich muss Schluss machen, sie will hier unten Wäsche waschen. Mir geht’s gut, Henry. In einer Woche bin ich wieder da.«
Oben fütterte Ann dem Baby ein paar Löffel zerdrückter Süßkartoffeln. Olive schaute ihr zu und musste an den Schlüsselanhänger denken, den Henry ihr einmal zum Hochzeitstag geschenkt hatte, ein vierblättriges Kleeblatt, das in ein Stück klares
Weitere Kostenlose Bücher