Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Pakistan. Es war dieser Ausdruck in seinen Augen, Mom, mehr sag ich ja gar nicht.«
Olive nickte, den Blick auf den großen Holztisch gesenkt. »Aber du bist trotzdem gern hier?«
»Schon.«
Aber der Tag verlief glatt und der nächste auch. Sie führte den Hund früher aus, um nicht mit Sean zusammenzutreffen. Und obwohl alles ungewohnt blieb, wie in einem fremden Land, konnte sie doch einen Rest Glücksgefühl tief im Innern nicht unterdrücken: Sie war bei ihrem Sohn. Mal war er gesprächig, mal war er wortkarg, und dann war er ihr am vertrautesten. Sie begriff sein neues Leben nicht, sie begriff auch Ann nicht, die Sachen sagte, die auf einer Kitschpostkarte hätten stehen können, aber sie entdeckte keine Anzeichen von Bedrücktheit bei Chris, und nur das zählte - das, und dass sie wieder zusammen waren. Wenn Theodore »Oma« zu ihr sagte, antwortete sie. Und obwohl sie ihn ziemlich unausstehlich fand, ertrug sie ihn, und an einem Abend las sie ihm eine Geschichte vor. (Aber als sie ein Wort ausließ und er sie verbesserte, hätte sie ihm eins auf seinen dunklen Kopf
geben mögen.) Er gehörte zur Familie ihres Sohnes, genau wie sie. Und wenn der Junge ihr zu lästig wurde oder wenn die Kleine plärrte, ging sie hinunter in den Keller und legte sich aufs Bett und dachte, wie froh sie doch sein konnte, dass sie Henry nicht wegen Jim verlassen hatte. Nicht dass sie es ernsthaft durchgezogen hätte, auch wenn sie sich daran erinnerte, dass sie es gewollt hatte - und was wäre dann aus Christopher geworden?
Am dritten Morgen kam Ann vom Kindergarten zurück, Christopher war schon zur Arbeit aufgebrochen, und das Baby planschte in dem Becken hinten im Hof, wo Olive im Liegestuhl saß. »Kannst du kurz auf sie aufpassen, während ich die Wäsche einsammle?«, fragte Ann, und Olive sagte: »Natürlich.«
Annabelle quengelte, aber Olive warf ihr einen abgebrochenen Zweig hin, und Annabelle patschte damit aufs Wasser. Olive schaute hoch zur Sonnenterrasse und versuchte zu sehen, ob der Papagei da war, der manchmal ohne ersichtlichen Grund Gott ist groß rief. »Teufel auch«, sagte Olive, und dann sagte sie es noch einmal, lauter, und Halleluja schallte es aus der Höhe. Sie streifte die Sandalen ab, kratzte sich die Füße und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, zufrieden mit ihrem kleinen Manöver. Er klang wirklich haargenau wie ihre Tante Ora. Sie stand wieder auf und ging in die Küche, um sich einen Doughnut zu holen, und als sie kauend an der Spüle stand, merkte sie plötzlich, dass sie das Baby vergessen hatte.
»Großer Gott«, flüsterte sie und eilte nach draußen. Annabelle war gerade dabei, sich aufzurichten. Olive bückte sich und fasste nach ihren Schultern, und die Kleine rutschte aus; Olive lief auf die andere Seite, um das Kind hochzuziehen und sein Gesicht über Wasser zu halten. Annabelle zappelte immer heftiger, fing an zu heulen und wand sich aus
Olives Griff. »Verflixt noch mal, willst du wohl aufhören!«, sagte Olive, und die Kleine starrte sie an und brüllte dann weiter.
Vater unser im Himmel, kreischte der Papagei.
»Das kenn ich noch gar nicht«, sagte Ann, die mit einem Geschirrtuch in der Hand in den Hof hinaustrat.
»Sie hat versucht, sich hinzustellen«, erklärte Olive. »Und ich konnte sie nicht richtig zu fassen bekommen.«
»Ja, sie wird jetzt jeden Tag zu laufen anfangen.« Trotz ihres dicken Bauches hob Ann das Kind mühelos hoch.
Olive kehrte zu ihrem Liegestuhl zurück, noch ganz zittrig von ihrem Kampf mit der Kleinen. Die Sohlen ihrer Strumpfhose hatten Löcher von dem Hin- und Hergerenne auf dem Beton.
»Wir haben heute Hochzeitstag«, sagte Ann und legte der Kleinen das Geschirrtuch um die Schultern.
»Ach ja?«
»Ja.« Ann lächelte, als erinnerte sie sich an etwas, das nur sie wusste. »Na, dann sehen wir mal zu, dass wir dich warmkriegen, du kleiner Nackefrosch.« Annabelle hatte die Beinchen rechts und links von Anns Kugelbauch gestreckt, schmiegte ihren nassen Kopf an Anns ausladenden Busen und nuckelte fröstelnd am Daumen.
Wie leicht hätte Olive sagen können: »Noch netter wäre es ja gewesen, ihr hättet mir vorher erzählt, dass ihr heiratet. Es ist grauenhaft für eine Mutter, so was im Nachhinein zu erfahren.« Aber sie sagte nur: »Dann herzlichen Glückwunsch.« Das Baby war nicht ertrunken, während sie ihren Doughnut gegessen hatte, das erfüllte sie mit einer solchen Erleichterung, dass der Hochzeitstag, so schmerzhaft er sie auch an ihre
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