Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Haus«, sagte Christopher.
»Ich muss mir von meinem Sohn doch nicht vorschreiben lassen, was ich tun und lassen soll«, sagte Olive, aber als Chris wieder nach drinnen ging und murmelnd etwas zu Ann sagte, stand sie auf und folgte ihm in die Küche. Sie setzte sich an den Küchentisch; sie hatte kaum geschlafen und fühlte sich zittrig.
»Ist irgendwas passiert, Mom?«, fragte Ann. »Du wolltest doch erst in ein paar Tagen fahren.«
Sie würde den Teufel tun und sich darüber beschweren, dass sie seelenruhig zugeschaut hatten, wie sie sich vollkleckerte;
den Kindern hätten sie das niemals angetan, bei denen hätten sie das Zeug abgewischt, aber sie ließ man einfach dasitzen, von oben bis unten mit Karamellsauce bekleckert. »Ich habe Christopher gesagt, dass ich drei Tage bleibe. Danach fange ich zu stinken an wie Fisch.«
Ann und Christopher wechselten einen Blick. »Du hattest gesagt, du bleibst eine Woche«, sagte Christopher wachsam.
»Richtig. Weil ihr Hilfe gebraucht habt, aber du warst ja nicht einmal ehrlich genug, es zuzugeben.« Blinde Wut kochte in ihr hoch, doppelt angefacht durch die Verschworenheit, die die beiden zu umgeben schien: Chris’ Finger in Anns Haar, der Blick, den sie getauscht hatten. »Gott, ich hasse es, angelogen zu werden. Wir haben dich nicht zum Lügner erzogen, Christopher Kitteridge.« Von Anns Hüfte glotzte das Baby sie an.
»Ich habe dich gebeten, uns zu besuchen«, sagte Christopher langsam, »weil ich dich gern sehen wollte. Ann wollte dich kennenlernen. Ich hatte gehofft, dass sich etwas geändert hätte, dass das nicht passieren würde. Aber, Mom, ich übernehme nicht mehr die Verantwortung für das extreme Auf und Ab deiner Stimmungen. Wenn etwas passiert ist, womit du ein Problem hast, solltest du es mir sagen. Dann können wir darüber reden.«
»Verdammt, du hast dein ganzes Leben nichts geredet. Warum fängst du jetzt plötzlich an?« Es lag an dem Therapeuten, wurde ihr schlagartig klar. An diesem hirnverbrannten Drecks-Arthur. Sie musste aufpassen, was sie sagte, es würde alles in einer Therapiegruppe wiederholt. Das extreme Auf und Ab deiner Stimmungen. Das war nicht Christophers Formulierung. Mein Gott, sie hatten sie schon nach Strich und Faden durchgehechelt. Bei der Vorstellung schauderte es sie am ganzen Körper. »Und was soll das bitteschön sein, das extreme Auf und Ab meiner Stimmungen? Was zum Teufel soll das heißen?«
Ann wischte mit einem Schwamm in der Milch herum, das Baby immer noch im Arm. Christopher stand ganz ruhig da. »Dein Verhalten hat etwas ziemlich Paranoides, Mom«, sagte er. »Das war bei dir schon immer so. Oder jedenfalls sehr häufig. Und ich habe nie erlebt, dass du selbst dafür die Verantwortung übernimmst. Gerade bist du noch ganz normal, drei Sekunden später - rastest du aus. Das ist sehr anstrengend, sehr ermüdend für deine Mitmenschen.«
Olives Fuß unter dem Tisch wippte wie verrückt. Gepresst sagte sie: »Ich muss hier nicht sitzen und mich als schizoid beschimpfen lassen. So etwas ist mir in meinem ganzen Leben nicht vorgekommen. Ein Sohn, der hergeht und seine Mutter schizoid nennt. Ich mochte meine Mutter weiß Gott nicht, aber ich hätte nie …«
»Olive«, sagte Ann. »Bitte, bitte beruhige dich. Niemand beschimpft dich. Chris hat dir nur zu erklären versucht, dass deine Stimmungen manchmal ein bisschen schnell umschlagen, und dass das schwer war. Für ihn als Heranwachsenden, weißt du. Diese ständige Unsicherheit.«
»Und woher willst du das bitteschön wissen? Warst du dabei?« In Olives Kopf wirbelte alles durcheinander. Mit ihrem Sehvermögen schien etwas nicht zu stimmen. »Habt ihr beide neuerdings ein Diplom in Familienpsychologie?«
»Olive«, sagte Ann.
»Nein, lass sie. Fahr ruhig, Mom. Schon in Ordnung. Ich ruf dir ein Taxi, das dich zum Flughafen bringt.«
»Du lässt mich da allein hinfahren? Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich muss in einer Stunde in die Arbeit, und Ann muss sich um die Kinder kümmern. Mit dem Taxi geht das ganz bequem. Ann, ruf am besten gleich an. Du musst an den Ticketschalter gehen, Mom, und dein Ticket umschreiben lassen. Aber das dürfte eigentlich alles kein Problem sein.«
Vor ihren ungläubigen Augen begann ihr Sohn, das schmutzige Geschirr von der Arbeitsplatte in die Spülmaschine zu räumen.
»Du wirfst mich raus, einfach so?«, fragte Olive mit wild hämmerndem Herzen.
»Siehst du, das ist so ein Beispiel«, sagte Christopher ganz ruhig. Während
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