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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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er die Spülmaschine belud, völlig ruhig. »Du sagst, du willst heimfahren, dann beschuldigst du mich, ich würde dich rausschmeißen. Früher hat so was bei mir immer Schuldgefühle ausgelöst, aber heute nicht. Weil ich nichts dafür kann. Du scheinst nicht zu begreifen, dass das, was du tust, Reaktionen auslöst.«
    Sie stand auf, beide Hände an der Tischkante, und stieg hinunter in den Keller, wo ihr Koffer bereits wartete. Sie hatte ihn noch in der Nacht gepackt. Keuchend schleppte sie ihn die Treppe hoch.
    »Das Taxi ist in zwanzig Minuten da«, sagte Ann zu Christopher, und er nickte, immer noch über die Spülmaschine gebeugt.
    »Das kann doch nicht wahr sein«, sagte Olive.
    »Das Gefühl kenn ich.« Christopher war jetzt dabei, einen Topf zu scheuern. »Das hab ich auch oft genug gedacht. Aber ab jetzt setze ich mich zur Wehr.«
    »Du machst doch schon seit Jahren nichts anderes!«, schrie Olive. »Seit Jahren behandelst du mich wie den letzten Dreck!«
    »Nein«, sagte ihr Sohn ruhig. »Ich glaube, wenn du darüber nachdenkst, wirst du sehen, dass es sich etwas anders verhält. Du bist sehr schwierig veranlagt. Wenigstens glaube ich, dass es Veranlagung ist, genau weiß ich es natürlich auch nicht. Aber du kannst es den Leuten schon elend schwer machen. Du hast Dad das Leben elend schwer gemacht.«
    »Chris«, sagte Ann in warnendem Ton.

    Aber Christopher schüttelte den Kopf. »Ich lasse mich nicht von meiner Angst vor dir leiten, Mom.«
    Angst vor ihr? Wie konnte irgendjemand Angst vor ihr haben? Sie war es doch, die Angst hatte! Er scheuerte die Töpfe, die Pfannen, wischte die Arbeitsflächen und stand ihr dabei ruhig Rede und Antwort. Egal, was sie sagte, er antwortete ruhig. So ruhig wie der Muslim, der ihm jeden Morgen seine Zeitung verkauft hatte, bevor er ihn in die U-Bahn mit der Bombe steigen ließ. (War das nicht paranoid? Ihr Sohn war hier der Paranoide, nicht sie!)
    Von oben hörte sie Theodores Stimme: »Mummy, du sollst kommen! Mummy?« Olive fing zu weinen an.
    Alles verschwamm, nicht nur ihre Sicht. Sie sagte Dinge, immer heftiger, immer wütender - und Christopher antwortete, ganz ruhig, Geschirr abspülend. Sie weinte weiter. Christopher sagte etwas über Jim O’Casey. Irgendetwas darüber, dass er betrunken gegen einen Baum gefahren war. »Ständig hast du Daddy angebrüllt, als ob Jims Tod seine Schuld wäre. Wie kann man so etwas tun, Mom? Ich weiß gar nicht, was ich furchtbarer fand - wenn du auf ihn losgegangen bist und Partei für mich ergriffen hast, oder wenn du auf mich losgegangen bist.« Christopher legte den Kopf schief, grüblerisch.
    »Was redest du da?«, schluchzte Olive. »Du mit deiner neuen Frau. Sie ist so zuckersüß und nett, dass ich kotzen könnte, Christopher. Ich hoffe nur, ihr habt auch ein zuckersüßes Leben, wo ihr so verdammt gut über alles Bescheid wisst.«
    Hin und her ging es, Olive weinend, Christopher ruhig. Bis er gelassen sagte: »So, nimm jetzt deine Taschen. Das Taxi ist da.«
     
    Die Schlange am Flughafen - vor der Sicherheitskontrolle - war so lang, dass sie bis um die Ecke reichte. Eine schwarze Frau in roter Flughafenweste wiederholte in immer demselben
durchdringenden Ton: »Bitte alle aufrücken und dichter an die Wand. Alle aufrücken und dichter an die Wand.«
    Zweimal sprach Olive sie an. »Wo muss ich hin?«, fragte sie und hielt der Frau ihr Ticket entgegen.
    »Gleich hier anstellen«, sagte die Frau und wies mit dem Arm in Richtung der Schlange. Ihr Haar war entkraust und sah aus wie eine verrutschte Bademütze mit Fransenbesatz.
    »Sind Sie ganz sicher?«, fragte Olive.
    »Gleich hier anstellen.« Wieder wies sie mit dem Arm. Ihr Desinteresse war wie eine Mauer.
    (Du warst die gefürchtetste Lehrerin an der ganzen Schule, Mom.)
    Während sie in der Schlange wartete, suchte Olive in den Gesichtern der Umstehenden nach irgendeiner Bestätigung, dass es absurd war, so endlos anstehen zu müssen - dass etwas nicht stimmen konnte. Aber jeder, dessen Blick sie einfing, schaute mit steinerner Miene wieder weg. Olive setzte die Sonnenbrille auf, blinzelnd. Wohin sie auch sah, wirkten die Leute distanziert und unfreundlich. Je weiter sie nach vorn rückte, desto unklarer wurde ihr - in diesem immer dichteren Gewühl von Menschen, in dem jeder Bescheid zu wissen schien, nur sie nicht -, wohin sie sich wenden, was sie tun sollte.
    »Ich muss meinen Sohn anrufen«, sagte sie zu einem Mann in ihrer Nähe. Was sie meinte, war, dass sie

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