Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
ihrer Seite ging, während Ann den Kinderwagen vor ihnen herschob, wobei die Kinder, Gott sei’s gedankt, Ruhe gaben. Chris’ podologische Praxis lief gut. »Die New Yorker nehmen ihre Füße sehr ernst«, sagte er. Teilweise behandelte er bis zu zwanzig Patienten am Tag.
»Lieber Himmel, Chris. Das ist eine Menge.«
»Ich muss auch eine Menge Rechnungen bezahlen«, sagte er. »Und bald werden es noch mehr sein.«
»Stimmt. Dein Vater wäre stolz auf dich.« Es wurde schon dunkel. In den erleuchteten Fenstern, an denen sie vorbeikamen, sah sie Menschen beim Lesen, beim Fernsehen. Ein Mann in einem der Fenster kitzelte seinen kleinen Sohn. Ein großes Wohlwollen wallte in ihr auf; sie wollte, dass alle froh und glücklich waren. Ja, als sie durch die Haustür traten und sie den anderen gute Nacht sagte, war sie so weit, dass sie sie allesamt hätte küssen können - ihren Sohn, Ann, selbst die Kinder, wenn es sein musste. Aber irgendwie schienen alle abgelenkt, und Chris und Ann sagten nur: »Gute Nacht, Mom.«
Also stieg sie hinunter in ihren weißen Keller. Sie ging in die kleine Besenkammer von einem Bad, knipste das Licht an, und als sie in den Spiegel sah, erblickte sie mitten auf ihrer blauen Baumwollbluse einen langen, satten Streifen klebrigbrauner Karamellsauce. Ein kleines Elendsgefühl befiel sie. Sie hatten es gesehen, und sie hatten nichts gesagt. Genau wie bei ihrer Tante Ora, damals vor vielen Jahren, wenn sie und Henry mit ihr eine Spazierfahrt gemacht und unterwegs angehalten hatten, um ein Eis zu essen, und Olive zusah, wie Tante Ora sich mit der geschmolzenen Eiskrem bekleckerte;
es hatte sie immer leicht gegraust bei dem Anblick. Letzten Endes war sie fast froh gewesen, als Ora starb und sie das Trauerspiel nicht länger mit anschauen musste.
Und jetzt war es mit ihr auch so weit. Aber sie war nicht Tante Ora, und ihr Sohn hätte sie augenblicklich darauf ansprechen müssen, schließlich würde auch sie etwas sagen, wenn er sich vollkleckerte! Dachten sie, sie wäre einfach ein Kleinkind mehr, mit dem sie durch die Gegend schoben? Sie zog die Bluse aus, ließ heißes Wasser in das kleine Waschbecken einlaufen und beschloss dann, sie doch nicht zu waschen. Sie wickelte sie in eine Plastiktüte und steckte sie in ihren Koffer.
Es war heiß am nächsten Morgen. Sie saß im Hinterhof auf dem Liegestuhl. Sie hatte sich noch vor Sonnenaufgang angezogen und sich vorsichtig die Treppe hinaufgeschlichen, ohne irgendwo Licht zu machen. Ihre Strumpfhose war an etwas hängengeblieben, und sie hatte das Netz aus kleinen Löchlein an ihren Sohlen gespürt. Sie schlug die Beine übereinander, ließ den Fuß wippen, und als es hell wurde, sah sie, dass die Laufmaschen schon über ihre dicken Knöchel heraufkrochen. Ann erschien als Erste im Küchenfenster, das Baby auf der Hüfte. Hinter ihr kam Christopher in Sicht, der an Ann vorbeilangte und ihr dabei leicht über den Arm strich. Olive hörte Ann sagen: »Deine Mom geht mit Dog-Face in den Park, und ich mach dann Theodore fertig, aber ein paar Minuten lass ich ihn noch schlafen.«
»Ist das nicht traumhaft, wenn er mal ein bisschen länger schläft?« Chris hatte sich umgedreht und ließ die Finger durch Anns Haar gleiten.
Olive dachte nicht daran, mit Dog-Face in den Park zu gehen. Sie wartete, bis die beiden nahe genug am Fenster waren, und sagte: »Ich pack’s dann heute.«
Christopher zog den Kopf ein. »Ich wusste nicht, dass du da draußen bist. Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt«, erwiderte Olive laut, »die verdammte Alte packt’s heute.«
Gepriesen sei Jesus Christus, tönte es aus der Höhe.
»Wie meinst du das?«, fragte Ann und bückte sich zum Fenster herunter, so dass der Fuß der Kleinen eine Milchtüte auf der Anrichte umstieß.
»Scheiße«, sagte Christopher.
»Er hat ›Scheiße‹ gesagt«, rief Olive zur Sonnenterrasse hoch und nickte rasch, als der Papagei krächzte: Gott ist groß. »Allerdings«, sagte Olive. »Das ist er.«
Christopher kam heraus in den Hof und zog die Tür sorgfältig hinter sich zu. »Mom, hör auf mit dem Unsinn. Was hast du denn?«
»Es ist Zeit, dass ich heimfahre. Ich hab mein Verfallsdatum überschritten, ich stinke.«
Christopher schüttelte langsam den Kopf. »Ich wusste, dass das passieren würde. Ich wusste, dass irgendetwas das auslösen würde.«
»Was soll das jetzt plötzlich?«, sagte Olive. »Ich sage dir lediglich, es ist Zeit, dass ich heimfahre.«
»Dann komm ins
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