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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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ein
Newsweek -Magazin von dem Tischchen, das neben dem Sessel stand.
    »Wär nur nett gewesen, wenn du dran gedacht hättest.«
    »Bonnie, ich hab gesagt …«
    »Und ich hab gesagt, lass es.«
    Er blätterte in der Zeitschrift, ohne zu lesen. Das einzige Geräusch war das Reißen der Wolle. Dann sagte sie: »Der neue Teppich soll wie ein Waldboden aussehen.« Sie nickte in Richtung eines senfgelben Wollstrangs.
    »Das ist eine schöne Idee«, sagte er. Sie flocht schon seit Jahren Teppiche. Sie band getrocknete Rosen und Lorbeeren zu Kränzen und nähte Steppjacken und Steppwesten. Früher war sie dafür bis spät in die Nacht aufgeblieben. Jetzt schlief sie an den meisten Abenden schon gegen acht ein und wachte auf, noch bevor es hell wurde; er wurde oft zum Surren der Nähmaschine wach.
    Er klappte die Zeitschrift zu und betrachtete sie, als sie aufstand und kleine grüne Wollschnipsel von sich abklopfte. Sie bückte sich anmutig, um die Bänder in einem großen Korb zu sammeln. Sie glich nur noch entfernt der Frau, die er geheiratet hatte; nicht dass ihm das allzu viel ausmachte, es verblüffte ihn nur, dass ein Mensch sich derart verändern konnte. Um die Taille hatte sie deutlich zugenommen, aber er auch. Ihr Haar, grau jetzt, war so kurzgeschnitten wie bei einem Mann, und der einzige Schmuck, den sie noch trug, war ihr Ehering. Sie schien nirgends dicker geworden außer um die Mitte. Er war überall dicker, nur sein Haar war viel dünner geworden. Vielleicht störte sie das an ihm. Wieder wanderten seine Gedanken zu dem jungen Pärchen, zu der hellen Stimme des Mädchens, ihrem zimtfarbenen Haar.
    »Machen wir eine Spazierfahrt«, sagte er.
    »Du kommst doch gerade von einer zurück. Ich will noch
Apfelkompott kochen und dann mit diesem Teppich anfangen.«
    »Hat einer von den Jungs sich gemeldet?«
    »Bis jetzt noch nicht. Kevin ruft wahrscheinlich noch an.«
    »Ich wünschte ja, er würde anrufen, um zu sagen, dass sie schwanger sind.«
    »Ach, drängel doch nicht so, Harmon. Himmelherrgott.«
    Aber er hätte am liebsten ein ganzes Rudel gewollt - Enkelkinder, dass es nur so wimmelte. All die Jahre der gebrochenen Schlüsselbeine, der Eiterpickel, der Hockeyschläger und Baseballschläger und verlorenen Schlittschuhe, der Zänkereien und wild verstreuten Schulbücher, all die Jahre, in denen man sich sorgen musste, weil ihr Atem nach Bier roch und weil das Auto erst mitten in der Nacht zurückkam und weil sie Freundinnen hatten und weil zwei keine Freundin hatten … All das hatte Bonnie und ihn ununterbrochen in Atem gehalten, so als wäre immer, immer irgendwo im Haus ein Leck, das geflickt werden musste, und oft hatte er gedacht, lieber Gott, mach, dass sie bald erwachsen sind.
    Und dann waren sie es.
    Er hatte gedacht, Bonnie würde vielleicht in ein Loch fallen und er würde auf sie aufpassen müssen. Er kannte mindestens eine Familie - wem ging das heutzutage nicht so? -, wo die Kinder flügge geworden waren und die Frau abgehauen war, zack, einfach so. Aber Bonnie wirkte nur gelassener, voll von einer ganz neuen Energie. Sie war in einen Lesezirkel eingetreten, und sie und eine andere Frau schrieben zusammen ein Kochbuch mit Rezepten aus der Zeit der ersten Siedler, an dem schon ein kleiner Verlag in Camden Interesse bekundet hatte. Sie begann noch mehr Teppiche zu flechten, für einen Laden in Portland, der sie verkaufte. Stolzgeschwellt hatte sie ihm ihren ersten Scheck gezeigt. Es kam einfach unerwartet für ihn, das war alles.

    Noch etwas passierte in dem Jahr, in dem Derrick zu studieren anfing. Dass sich bei ihnen im Bett deutlich weniger tat als früher, hatte Harmon akzeptiert; ihm war schon seit einer Weile bewusst, dass Bonnie ihn eher gewähren ließ als sonst irgendetwas. Aber eines Abends wollte er sie streicheln, und sie schob ihn weg. Nach einem langen Moment sagte sie leise: »Harmon, ich glaube, ich bin damit einfach durch.«
    Sie lagen nebeneinander im Dunkeln, und aus der Tiefe seiner Eingeweide heraus packte ihn die furchtbare, nackte Gewissheit, dass ihr damit ernst war. Trotzdem, niemand nimmt Verluste so einfach hin.
    »Durch?«, fragte er. Sie hätte zwanzig Ziegelsteine auf seine Magengrube fallen lassen können, so stark war der Schmerz.
    »Tut mir leid. Aber ich bin einfach durch. Es hat keinen Sinn, dass ich irgendwas vortäusche. Davon hat doch keiner von uns etwas.«
    Er fragte, ob es daran lag, dass er dick geworden war. Sie sagte, er sei ja nicht in dem Sinn dick

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