Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
aufgefordert«, sagte Harmon.
Sie erzählte ihm, dass ihr Lieblingslied »Whenever I Feel Afraid« war, und sang es ihm leise vor, mit einem warmen Glanz in den blauen Augen. Er sagte, als er im Radio zum ersten Mal Elvis mit »Fools Rush In« gehört hatte, da habe er das Gefühl gehabt, Elvis und er seien Freunde.
Wenn er nach so einem Vormittag zu seinem Auto beim Segelclub zurückging, stellte er manchmal überrascht fest,
dass die Welt sich verändert anfühlte; die kalte Luft hatte so etwas angenehm Frisches, und das Rascheln der Eichenblätter klang freundschaftlich. Zum ersten Mal seit Jahren dachte Harmon über Gott nach, und es war, als hätte er hoch oben im Regal immer ein Sparschwein stehen gehabt, das er nun herunterholte und mit ganz neuen, taxierenden Augen betrachtete. Er fragte sich, ob sich so die jungen Leute fühlten, wenn sie kifften oder diese Droge nahmen, Ecstasy.
An einem Montag im Oktober meldete die Lokalzeitung, auf dem Washburn-Grundstück sei es zu Verhaftungen gekommen. Die Polizei habe eine Party aufgelöst, bei der auf einem Fensterbrett mehrere Töpfe mit Hanfpflanzen entdeckt worden seien. Harmon las den Artikel gründlich und fand die Namen Timothy Burnham und »seine Freundin Nina White«, der außerdem vorgeworfen wurde, einen Polizisten tätlich angegriffen zu haben.
Harmon konnte sich nicht vorstellen, dass das Mädchen mit dem Zimthaar und den dünnen Beinen einen Polizisten angriff. Er brütete darüber, während er im Laden hin und her ging, ein Kugellager für Greg Marston heraussuchte, eine Saugpumpe für Marlene Bonney. Er schrieb ein Schild, 10 % RABATT, und hängte es an den letzten noch übrigen Grill im Fenster. Er hoffte, Kathleen Burnham würde in den Laden kommen oder vielleicht jemand von der Sägemühle, den er fragen könnte, aber es kam keiner, und von den Kunden erwähnte es niemand. Er rief Daisy an, die den Artikel auch gelesen hatte und nur hoffte, dass dem Mädchen nichts fehlte. »Armes kleines Ding«, sagte sie, »sie muss große Angst gehabt haben.«
Am Abend kam Bonnie von ihrem Lesezirkel zurück, zu dem auch Kathleen Burnham gehörte. Sie hatte erzählt, ihr Neffe Tim habe einfach das Pech gehabt, ein paar Freunde
einzuladen, die die Musik zu laut aufdrehten, und einige hätten gekifft, darunter Tims Freundin. Als die Polizei kam, habe die Freundin, Nina, um sich geschlagen wie eine Wildkatze, und sie hätten ihr Handschellen anlegen müssen, aber wahrscheinlich würde die Anklage fallengelassen und sie würden alle mit einer Geldstrafe und einem Jahr Bewährung davonkommen.
»Idioten«, sagte Bonnie kopfschüttelnd. Harmon sagte nichts. »Wo sie noch dazu krank ist«, fügte Bonnie hinzu und ließ das Buch aufs Sofa fallen. Es war ein Buch von Anne Lindbergh, sie hatte ihm davon erzählt. Anne Lindbergh entführte einen aus der Alltagswelt.
»Wer ist krank?«
»Dieses Mädchen. Die Freundin von Tim Burnham.«
»Krank inwiefern?«
»Sie hat diese Krankheit, wo man nichts essen kann. Und zwar offenbar schon so lang, dass ihr Herz irgendwie beschädigt ist, also ist sie eine doppelte Idiotin.«
Harmon spürte ein paar erste Schweißtröpfchen auf seiner Stirn. »Bist du sicher?«
»Dass sie eine Idiotin ist? Überleg doch mal, Harmon. Wenn man jung ist und einen Herzschaden hat, sollten wilde Partys eigentlich tabu sein. Und dieses Gehungere sollte gleich dreimal tabu sein.«
»Sie hungert nicht. Ich hab sie mit dem Jungen unten im Clubhaus gesehen. Sie haben an einem Tisch gesessen und Frühstück bestellt.«
»Und wie viel von dem Frühstück hat sie gegessen?«
»Das weiß ich nicht«, gab er zu und dachte an ihren schmalen, über den Tisch gebeugten Rücken. »Aber sie sieht nicht krank aus. Sie ist ein hübsches Mädchen.«
»Das sagt Kathleen auch. Tim hat sie kennengelernt, als er irgendeiner Band hinterhergefahren ist. Anscheinend reisen
jetzt alle hinter irgend so einer Band her, Fish oder Pish oder so ähnlich. Weißt du noch, wie Kevin von diesen Leuten erzählt hat, die sich Dead Heads nannten, diese Fans von - wie hieß die Gruppe gleich wieder? Grateful Dead? Ich fand das ja immer geschmacklos.«
»Er ist gestorben«, sagte Harmon. »Dieser fette Sänger von dieser Band, Jerry.«
»Na, ich hoffe, er ist ein dankbarer Toter«, sagte Bonnie.
Die Hälfte der Bäume hatte mittlerweile ihr Laub verloren. Der Spitzahorn hielt seine gelben Blätter noch fest, aber die orangeroten des Zuckerahorns hatte es fast alle
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