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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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beiden die Schaufenster betrachtet hatten, dieselbe unaufgeregte Nonchalance strahlten sie auch jetzt aus, während sie an dem Geländer neben der Treppe lehnten. Der Junge war ein Neffe von Kathleen Burnham, aus New Hampshire, so hieß es, und angeblich arbeitete er in der Sägemühle, auch wenn er kaum größer war als ein Ahornschössling und auch kaum älter aussah. Aber sein Blick hinter der schwarzgerahmten Brille war lässig, seine Haltung war lässig. Sie trugen keine Eheringe, stellte Harmon fest, und er schaute hinaus über die Bucht, die im Licht der Vormittagssonne glitzerte und an diesem windstillen Tag so glatt war wie eine Münze.
    »Victoria nervt mich«, hörte Harmon das Mädchen sagen. Ihre Stimme war sehr hell und wirkte dadurch zu laut. Es schien ihr egal zu sein, dass andere mithörten, auch wenn nur ein paar wenige - Harmon, zwei Fischer - mit ihnen auf Einlass warteten. Neuerdings war das Clubhaus an den Sonntagvormittagen ein beliebtes Frühstücksziel, und man musste
nicht selten um einen Tisch anstehen. Bonnie, Harmons Frau, war dazu nicht bereit. »Schlange stehen macht mich nervös«, sagte sie.
    »Wieso?«, fragte der Junge. Er sprach leiser, aber Harmon stand so nahe, dass er ihn trotzdem hörte. Er drehte sich zu ihnen um und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.
    »Na ja.« Das Mädchen schien zu überlegen, sie zog eine kleine Schnute. Ihre Haut war makellos und hatte einen ganz leichten Zimtton. Die Haare waren passend dazu gefärbt - jedenfalls vermutete Harmon, dass sie gefärbt waren. Die heutigen Mädchen machten die tollsten Sachen mit ihrem Haar. Seine Nichte arbeitete in einem Friseursalon in Portland und hatte Bonnie erklärt, dass das Haarefärben von jetzt kein bisschen mehr mit dem Haarefärben von früher zu tun hatte. Es gab jetzt alle möglichen Farbtöne, und es war sogar gut fürs Haar. Bonnie sagte, egal, für sie tue es das Haar, das Gott ihr gegeben hatte. Harmon fand das schade.
    »Sie ist einfach eine ziemliche Zicke zurzeit«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme war nachdrücklich, aber dabei grüblerisch. Der Junge nickte.
    Die Tür zum Clubhaus ging auf, zwei Fischer kamen heraus, die beiden, die warteten, gingen hinein. Der Junge ließ sich auf die Holzbank fallen, und statt neben ihn setzte sich das Mädchen auf seinen Schoß, als ob er ein Stuhl wäre. »Da«, sagte sie zu Harmon, mit einer Kopfbewegung zu dem freien Platz hin.
    Er wollte schon abwinken, nein, nicht nötig, aber ihr Blick war so offen und sachlich, dass er sich neben die beiden zwängte.
    »Hör auf, an mir zu schnüffeln«, sagte das Mädchen. Sie starrte aufs Wasser hinaus; die Jeansjacke mit dem Fellbesatz an der Kapuze drückte ihr den Kopf nach vorn. »Du schnüffelst an mir, ich merk’s doch.« Sie machte eine kleine
Geste, wie um dem Jungen einen Klaps zu geben. Harmon, der sie aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, richtete den Blick geradeaus. In diesen wenigen Sekunden musste ein Wind aufgekommen sein, über die Bucht strich ein einziges, langes Kräuseln. Er hörte ein Klappern - ein Ruder wurde in ein Boot geworfen - und sah dem jungen Coombs zu, wie er das Tau von dem Pflock am Bootssteg abstreifte. Die Leute erzählten sich, dass der Junge keine Lust hatte, den Laden seines Vaters zu übernehmen; er wollte stattdessen zur Küstenwache.
    Ein Auto, das in den Parkplatz einbog, gab Harmon einen Grund, den Kopf zu wenden, und er sah, wie das Mädchen an der Schulter ihrer Jeansjacke schnupperte. »Ich weiß schon selber, dass ich nach Pot riech«, sagte sie.
    »Kiffer«, würde Bonnie von ihnen sagen, wegwerfend. Und wie das Mädchen hier bei dem Jungen auf dem Schoß saß, das würde ihr auch nicht gefallen. Aber Harmon hatte den Eindruck, dass die modernen jungen Leute alle kifften, so wie seinerzeit in den Sechzigern. Seine eigenen Söhne hatten es sicher auch probiert, und vielleicht kiffte Kevin heute noch, aber bestimmt nicht vor seiner Frau. Kevins Frau trank Sojamilch, stellte ihren Müslimix selbst zusammen und redete so viel von ihrem Jogakurs, dass Harmon und Bonnie nur noch die Augen verdrehen konnten. Trotzdem, ihre Konsequenz nötigte Harmon Bewunderung ab, genau wie ihm das Pärchen hier Bewunderung abnötigte. Ihnen gehörte die Welt. Es war ihre Lässigkeit, die reine Haut des Mädchens, ihre starke, helle Stimme. Harmon fühlte sich wie damals, als er als Kind einmal nach einem Regenguss auf einem Fahrweg dahingestapft war und in einer Pfütze einen

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