Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
geworden, das solle er um Gottes willen nicht denken. Sie sei nur einfach durch.
Aber vielleicht war ich zu sehr auf mich fixiert, sagte er. Was kann ich tun, damit du auf deine Kosten kommst? (Über so etwas hatten sie eigentlich nie geredet - er wurde im Dunkeln rot.)
Ob er denn nicht begreifen könne, erwiderte sie, es lag nicht an ihm , sondern an ihr. Sie war ganz einfach durch.
Jetzt schlug er die Newsweek wieder auf und dachte, noch ein paar Jahre, dann würde das Haus wieder voll sein; vielleicht nicht die ganze Zeit, aber doch öfter. Sie würden gute Großeltern werden. Er las den Absatz in dem Artikel noch einmal. Über den Einsturz der Zwillingstürme sollte ein Film gedreht werden. Er hatte das Gefühl, dass er dazu eine Meinung haben müsste, aber ihm fiel nichts ein. Wann hatte
er aufgehört, Meinungen zu haben? Er wandte sich um und schaute auf das Wasser hinaus.
Bonnie betrügen - die Worte waren so fern wie Möwen, die um Longway Rock kreisten, nicht einmal pünktchengroß, wenn man vom Ufer aus hinsah; sie bedeuteten Harmon nichts. Warum auch? Sie unterstellten eine Leidenschaft, die ihn seiner Frau wegnehmen könnte, und so war es nicht. Bonnie war die Zentralheizung seines Lebens. Seine kurzen Sonntagsbesuche bei Daisy waren zwar nicht unzärtlich, aber sie kamen ihm eher vor wie ein gemeinsames Hobby, wie Vögelbeobachten. Er wandte sich wieder der Zeitung zu, mit einem heimlichen Schauder bei der Vorstellung, ein Sohn von ihm könnte in einem dieser Flugzeuge gesessen haben.
Am Donnerstag wurde es bereits dunkel, als das Pärchen den Heimwerkerladen betrat. Harmon erkannte die klare Stimme des Mädchens, noch bevor er sie sah. Er kam um das Regal mit den Bohrern herum und war überrascht, wie offen und direkt ihr »Hi« klang. Sie dehnte es fast zu zwei Silben, ohne zu lächeln zwar, aber mit demselben sachlichen Gesichtsausdruck, der ihm vor dem Clubhaus aufgefallen war.
»’n Abend«, sagte Harmon. »Kommt ihr zurecht?«
»Jaja. Wir schauen nur ein bisschen.« Das Mädchen schob ihre Hand in die Tasche des Jungen. Harmon verbeugte sich leicht, und sie zogen ab in Richtung Glühbirnen. Er hörte sie sagen: »Er erinnert mich an Luke aus der Klinik. Was aus dem wohl geworden ist? Weißt du noch, Muffin-Luke, der den Scheißladen geleitet hat?«
Der Junge nuschelte eine Antwort.
»Luke war so was von gestört. Das habe ich dir doch erzählt, oder, dass er gesagt hat, er wartet auf eine Herz-OP? Ich wette, er war ein grauenhafter Patient - er war es dermaßen gewöhnt, alle rumzukommandieren. Aber das mit
seinem Herz hat ihm dann doch Angst gemacht. Das hab ich dir erzählt, oder, dass er gesagt hat, er würde nicht wissen, ob er lebendig wieder aufwacht oder tot?«
Wieder Genuschel, und Harmon holte den Besen aus dem Lagerraum. Beim Fegen sah er sie stehen, mit dem Rücken zu ihm, das Mädchen dicht neben dem Jungen, der eine Jacke mit ausgebeulten Taschen anhatte. »Aber tot wacht man ja nicht auf, stimmt’s?«
»Wenn ihr Hilfe braucht, sagt einfach Bescheid«, sagte Harmon, und sie drehten sich beide um, das Mädchen fast ein bisschen erschrocken.
»Machen wir«, sagte sie.
Er ging mit dem Besen nach vorn. Cliff Mott kam herein und wollte wissen, ob die neuen Schneeschaufeln schon da waren, und Harmon sagte ihm, dass sie nächste Woche geliefert würden. Er zeigte Cliff eine von letztem Jahr, und Cliff betrachtete sie lange und sagte dann, er würde wiederkommen.
»Die sollten wir Victoria schenken«, hörte Harmon das Mädchen sagen. Er fegte sich vor bis zum Regal mit den Gartenartikeln und sah, dass sie eine Gießkanne in der Hand hielt. »Victoria sagt, ihre Blumen hören zu, wenn sie mit ihnen redet, und ich glaub’s ihr sogar.« Das Mädchen stellte die Gießkanne ins Regal zurück, und der Junge, schlurfig, lässig, nickte. Er besah sich die Gartenschläuche, die zusammengerollt an der Wand hingen. Harmon fragte sich, was sie um diese Jahreszeit mit einem Gartenschlauch wollten.
»Das hab ich dir doch erzählt, oder, warum sie jetzt immer so angepisst ist?« Das Mädchen trug wieder die Jeansjacke von neulich, mit dem Kunstfell an den Bündchen. »Das kommt, weil der Typ, auf den sie steht, eine Fickbeziehung hat und ihr nichts davon gesagt hat. Sie hat es von wem anders erfahren.«
Harmons Besen stand still.
»Aber eine Fickbeziehung - ich meine, was soll der Stress. Das ist doch schließlich der Witz an einer Fickbeziehung.« Das Mädchen lehnte den Kopf an
Weitere Kostenlose Bücher