Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
die Schulter ihres Freundes.
    Der Junge stupste sie in Richtung Tür. »Schönen Abend noch«, sagte Harmon. Das Mädchen zog mit ihrer kleinen Hand am Griff. Ihre Füße steckten in großen, unförmigen Wildlederstiefeln, aus denen ihre Beine herausragten wie Spinnenbeine. Erst als sie draußen und außer Sicht waren, konnte Harmon das unbehagliche Gefühl, das ihn befallen hatte, einordnen. Sicher wusste er es nicht, aber seine jahrelange Erfahrung im Laden sagte ihm, dass der Junge etwas geklaut hatte.
     
    Am nächsten Morgen rief er seinen Sohn Kevin in der Arbeit an.
    »Alles in Ordnung, Dad?«, fragte Kevin.
    »Doch, sicher. Klar.« Harmon fühlte sich mit einem Mal befangen. »Bei dir auch alles in Ordnung?«, fragte er.
    »Alles bestens. Der Job läuft. Martha fängt an, vom Kinderkriegen zu reden, aber ich finde, wir sollten es langsam angehen.«
    »Ihr seid beide jung«, sagte Harmon. »Ihr könnt noch warten. Ich kann’s nicht erwarten. Aber überstürzt mal nichts. Ihr habt ja gerade erst geheiratet.«
    »Aber man kommt sich gleich viel älter vor, findest du nicht? Wenn erst mal der Ring am Finger steckt?«
    »Ja, wahrscheinlich.« Es fiel Harmon schwer, sich an seine Gefühle während der ersten Ehejahre zu erinnern. »Sag mal, Kev. Kiffst du eigentlich manchmal?«
    Kevin lachte durchs Telefon. Für Harmon hörte es sich gesund an, freiheraus, entspannt. »Großer Gott, Dad. Was ist denn in dich gefahren?«

    »Ich hab mich einfach nur gefragt. In das Haus von den Washburns sind junge Leute eingezogen. Die Nachbarn haben Angst, es könnten Kiffer sein.«
    »Gras schlägt mir auf die Stimmung«, sagte Kevin. »Da will ich nur noch allein sein. Also lass ich’s.«
    »Darf ich dich noch was fragen?«, sagte Harmon. »Und verpfeif mich um Gottes willen nicht bei deiner Mutter. Aber gestern war dieses junge Pärchen bei mir im Laden und hat sich unterhalten, ganz normal, weißt du, und da kam das Wort ›Fickbeziehung‹ vor. Hast du das schon mal gehört?«
    »Du verblüffst mich, Dad. Was ist los mit dir?«
    »Ich weiß, ich weiß.« Harmon machte eine abwehrende Geste. »Ich hasse es einfach, alt zu werden, so ein alter Sack, der keine Ahnung von den Jungen mehr hat. Also dachte ich, ich frag dich.«
    »Fickbeziehung. Ja. Das ist in heutzutage. Wie der Name schon sagt. Leute, die sich zusammentun, einfach um Sex zu haben. Ohne alle Verpflichtungen.«
    »Verstehe.« Harmon wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
    »Ich muss weitermachen, Dad. Aber hör mal, keine Sorge. Du bist cool, Dad. Du bist kein alter Sack, überhaupt nicht.«
    »Ist gut«, sagte Harmon, und nachdem er aufgelegt hatte, starrte er lange aus dem Fenster.
     
    »Gar kein Problem, wirklich«, sagte Daisy, als er sie am nächsten Tag anrief. »Im Ernst, Harmon.« Er hörte sie beim Reden rauchen. »Mach dir bitte keine Gedanken«, sagte sie.
    Nach einer Viertelstunde rief sie zurück. Er hatte einen Kunden da, aber Daisy sagte: »Hör mal, wie wär’s, wenn du trotzdem vorbeikommst, nur zum Reden? Einfach ein bisschen reden.«
    »Ist gut«, sagte er. Cliff Mott schleppte die Schneeschaufel
zur Kasse. Cliff Mott mit seiner Angina pectoris, der jeden Moment tot umfallen konnte. »Jetzt kann der Winter kommen«, sagte Harmon zu ihm und schob ihm sein Wechselgeld hin.
    Harmon setzte sich auch jetzt nicht in Coppers Sessel; er saß neben Daisy auf der Couch, und ein- oder zweimal konnte es vorkommen, dass ihre Hände sich kurz berührten. Ansonsten machten sie es, wie Daisy vorgeschlagen hatte: Sie redeten. Er erzählte ihr von dem Haus seiner Großmutter, ihrer Speisekammer, die immer nach Ammoniak gerochen hatte, wenn er sie besuchte, von seinem Heimweh dort. »Ich war noch klein, weißt du«, sagte er in Daisys mitfühlendes Gesicht hinein. »Und ich wusste, dass es mir Spaß machen sollte. Das war der Sinn des Ganzen. Da konnte ich doch niemandem sagen, dass es mir kein bisschen Spaß machte.«
    »Ach, Harmon.« Daisy bekam feuchte Augen. »Ja. Ich weiß, was du meinst.«
    Sie erzählte ihm, wie sie einmal eine Birne aus Mrs. Kettlewoods Vorgarten gepflückt hatte und von ihrer Mutter gezwungen worden war, sie wieder zurückzubringen - wie peinlich ihr das gewesen war. Er erzählte ihr von dem Vierteldollar in der Schlammpfütze. Sie erzählte von ihrem ersten Tanzabend an der High School, zu dem sie ein Kleid von ihrer Mutter getragen hatte, und der Einzige, der sie aufgefordert hatte, war der Direktor.
    »Ich hätte dich

Weitere Kostenlose Bücher