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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Vierteldollar gefunden hatte. Die Münze war ihm riesig vorgekommen, magisch. Dieses Pärchen beflügelte ihn auf genau die gleiche Weise - eine so verschwenderische Fülle so dicht neben ihm!

    »Wir könnten uns hinlegen«, sagte das Mädchen gerade. »Heute Nachmittag. Dann halten wir besser durch. Das wär vielleicht gut, es kommen absolut alle.«
    »Können wir machen«, antwortete der Junge.
     
    Am Tresen war kein Platz für die Zeitung, also aß Harmon seine Eier und seinen Maismehlmuffin und beobachtete dabei das Pärchen, das an einem Tisch am Fenster saß. Das Mädchen war dünner, als er gedacht hatte, wie sie sich nun über den Tisch vorbeugte; ihr Oberkörper wirkte trotz der kleinen Jeansjacke schmal wie ein Waschbrett. Einmal verschränkte sie die Arme und legte den Kopf darauf. Der Junge redete weiter, sein entspannter Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Als sie sich wieder aufrichtete, berührte er ihr Haar, rieb die Spitzen zwischen den Fingern.
    Harmon kaufte zwei Doughnuts in zwei getrennten Tüten und ging. Es war Anfang September, und die Kronen der Ahornbäume färbten sich schon rot; ein paar feuerrote Blätter lagen im Straßenlehm, makellos, sternförmig. Vor Jahren, als seine Söhne noch klein gewesen waren, hätte Harmon vielleicht darauf gezeigt, und sie hätten sie voller Eifer aufgehoben - vor allem Derrick hatte Blätter und Zweige und Eicheln geliebt. Bonnie hatte oft einen halben Wald unter seinem Bett gefunden. »Irgendwann zieht da unten noch ein Eichhörnchen ein«, hatte sie immer gesagt, und dann hatte Derrick das Zeug herausfegen müssen, so sehr er auch weinte. Derrick war ein richtiger Hamster gewesen, ein Hamster mit sentimentalen Anwandlungen. Harmon ließ das Auto beim Segelclub stehen und ging zu Fuß, und die Luft fühlte sich an, als drückte ihm jemand einen kalten Waschlappen ins Gesicht. Jeder seiner Söhne war sein Lieblingskind gewesen.

    Daisy Foster wohnte in einem winterfesten Häuschen ganz oben an der Straße, die sich am Segelclub vorbei zum Wasser hinunterschlängelte. Von ihrem kleinen Wohnzimmer aus sah man in der Ferne einen schmalen Streifen Meer. Durch das Esszimmerfenster sah man nur die Schotterstraße ein paar Meter entfernt, aber immerhin war das Fenster im Sommer von blühenden Brombeerranken umkränzt. Jetzt waren die Ranken struppig und kahl, und es war kalt; sie hatte ein Feuer im Küchenofen angezündet. Zuvor hatte sie ihre Kirchenkleider gegen einen alten Rock und einen blassblauen Pullover getauscht, der zur Farbe ihrer Augen passte, und nun rauchte sie am Esstisch eine Zigarette und schaute hinüber zu der Rotkiefer auf der anderen Straßenseite, deren Astspitzen ganz leicht auf und ab schwankten.
    Daisys Mann, der vom Alter her ihr Vater hätte sein können, war vor drei Jahren gestorben. Ihre Lippen bewegten sich, als sie daran dachte, wie er heute Nacht im Traum zu ihr gekommen war, wenn man es einen Traum nennen wollte. Sie klopfte ihre Asche in den großen Glasaschenbecher. Ein geborener Liebhaber, hatte er immer gesagt. Draußen vor dem Fenster sah sie das junge Pärchen vorbeifahren, Kathleen Burnhams Neffen und seine Freundin. Sie fuhren einen verbeulten Volvo, der über und über mit Aufklebern bedeckt war, und Daisy musste an die Überseekoffer von früher denken, ein abgestempeltes Visum neben dem anderen. Das Mädchen redete, der Junge am Steuer nickte dazu. Durch den struppigen Brautkranz vor ihrer Fensterscheibe meinte Daisy auf einem der Aufkleber GLOBALISIERUNG NEIN DANKE zu lesen, mit einer durchgestrichenen Erdkugel darunter.
    Sie drückte gerade ihre Zigarette in dem großen Glasaschenbecher aus, als Harmon in Sicht kam. Harmons schleppender Gang und die hängenden Schultern ließen ihn älter wirken, als er war, und allein schon bei diesem flüchtigen
Anblick sprang der Kummer sie an, den er mit sich herumtrug. Aber als sie ihm aufmachte und er sie ansah, war in seinen Augen dieses Aufblitzen von Lebhaftigkeit und Unschuld. »Danke, Harmon«, sagte sie und nahm ihm die Tüte mit dem Doughnut ab, den er jedes Mal mitbrachte. Sie ließ sie auf dem Küchentisch mit der rotkarierten Decke liegen, neben der anderen Tüte, die Harmon dort hingelegt hatte. Sie würde den Doughnut später essen, zu einem Glas Rotwein.
    Im Wohnzimmer setzte Daisy sich auf die Couch und schlug ihre rundlichen Fesseln übereinander. Sie zündete sich eine neue Zigarette an. »Wie geht’s dir, Harmon?«, fragte sie. »Wie geht’s den

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