Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
waren kahl und der Himmel meist verhangen. Die Kürze der Tage löste in Harmon die dumpfe
Gleichgültigkeit aus, die ihn seit langem immer wieder überfiel; kein Wunder, dass Bonnie sich wünschte, er würde aufleben. Doch auf eine unmerkliche, heimliche Art lebte er jetzt auf. Wenn er die Runde drehte und den Laden schloss, einem Kunden in letzter Sekunde noch ein paar Nägel verkaufte, merkte er, dass er den Sonntagvormittagen mit Daisy voll Freude entgegensah, ohne die verstohlene Dringlichkeit jener wenigen Monate, die ihre »…beziehung« gedauert hatte. Es war, als brannte eine Lampe in einer Stadt, in der die Nacht früh kam, und wenn er abends heimfuhr, wählte er manchmal den langen Weg, um an ihrem Haus vorbeifahren zu können. Einmal sah er einen verbeulten Volvo in ihrer Einfahrt stehen; das Auto war übersät mit Aufklebern, und er fragte sich, ob wohl Verwandte von Copper aus Boston zu Besuch waren.
Am nächsten Sonntag sagte Daisy gleich an der Tür gedämpft: »Komm rein, Harmon. Du glaubst nicht, was ich dir zu erzählen habe!« Sie legte einen Finger an die Lippen und fuhr fort: »Nina schläft oben in dem kleinen Zimmer.« Sie saßen am Esstisch, während Daisy ihm flüsternd berichtete, dass das Mädchen vor ein paar Tagen Streit mit Tim gehabt hatte - seit dem Rausschmiss wohnten sie in einem Motel an der Route I - und er mit dem Handy der beiden abgezogen war. Nina hatte an Daisys Tür geklopft, so aufgelöst, dass Daisy schon dachte, sie müsste sie zum Arzt bringen. Aber dann hatte Nina den Jungen erreicht, und er war gekommen und hatte sie abgeholt. Daisy hatte gedacht, sie hätten sich versöhnt. Aber gestern Abend war das Mädchen wieder vor ihrer Tür gestanden, es hatte wieder Streit gegeben, sie wusste nicht, wo sie hinsollte. Und nun war sie da oben. Daisy schlang auf dem Tisch die Hände ineinander. »Mann. Jetzt eine Zigarette!«
Harmon lehnte sich zurück. »Verkneif’s dir, wenn’s irgendwie geht. Wir finden schon eine Lösung.«
Über ihnen knarrten die Dielen, dann eine Bewegung auf der Treppe, und vor ihnen stand das Mädchen, in Flanellhosen und T-Shirt. »Hallo«, sagte Harmon, damit sie keinen Schrecken bekam, dabei war er selber erschrocken. Er hatte sie wochenlang nicht gesehen, seit dem Tag im Laden nicht; er erkannte sie kaum wieder. Ihr Kopf wirkte viel zu groß für ihren Körper, an den Schläfen traten die Adern hervor, und ihre nackten Arme waren so dünn wie die Latten des Stuhls, an dem sie sich festhielt. Er konnte kaum hinschauen.
»Setz dich her, Liebes«, sagte Daisy. Das Mädchen setzte sich, legte die langen, langen Arme auf die Tischplatte. Man konnte das Gefühl haben, ein Skelett hätte sich zu ihnen an den Tisch gesetzt.
»Hat er angerufen?«, fragte das Mädchen Daisy. Ihre Haut hatte jetzt keinen Zimtton mehr, sie war fahl, und ihr ungekämmtes Haar sah unecht aus, wie das Fell eines Stofftiers.
»Nein, Liebes. Tut mir leid.« Daisy reichte ihr ein Kleenex, und Harmon sah, dass das Mädchen weinte.
»Was soll ich nur tun?«, fragte sie. Ihr Blick ging an Harmon vorbei, zur Straße vor dem Fenster. »Ich meine, ausgerechnet Victoria. Verdammt, sie war meine Freundin .«
»Du kannst gern noch einen Tag bleiben, bis du klarer siehst«, sagte Daisy. Das Mädchen richtete die großen hellbraunen Augen auf Daisy, als betrachtete sie sie von weit weg.
»Du solltest was essen, Liebes«, sagte Daisy. »Ich weiß schon, dass du nichts möchtest, aber trotzdem.«
»Sie hat recht«, sagte Harmon. Er sorgte sich, das Mädchen könnte in Daisys kleinem Häuschen in Ohnmacht fallen oder sterben. Bonnie hatte gesagt, dass ihr Herz schon geschädigt war. »Schauen Sie.« Er schob die beiden Tüten aus dem Clubhaus in ihre Richtung. »Doughnuts.«
Das Mädchen beäugte die Tüten. »Doughnuts?«
»Wie wär’s mit einem halben Glas Milch und einem Stück Doughnut?«, sagte Daisy. Das Mädchen schluchzte auf. Während Daisy die Milch holte, langte Henry in die Tasche und reichte ihr sein zusammengefaltetes weißes Taschentuch. Das Mädchen hörte zu weinen auf, lachte.
»Hey, cool«, sagte sie. »Ich dachte, die Dinger wären ausgestorben.«
»Benutzen Sie’s nur«, sagte Harmon. »Aber tun Sie uns die Liebe an und trinken Sie diese Milch.«
Daisy brachte das Glas Milch, zog den Doughnut aus seiner Tüte und brach ihn in der Mitte durch.
»Dieser Scheißkerl Luke«, sagte das Mädchen, plötzlich lebhaft. »Der hat mir eine Besserungsfrist verpasst,
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