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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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von den Ästen geweht, die nun aussahen wie Arme mit winzigen Fingern daran, skelettartig und düster. Harmon saß neben Daisy auf der Couch. Er hatte gerade erwähnt, dass er das Pärchen nirgends mehr sah, und sie erzählte ihm, dass Les Washburn die beiden rausgeschmissen hatte, nachdem es bei der Party zu den Verhaftungen gekommen war, aber wo sie jetzt wohnten, wusste sie auch nicht, nur, dass Tim nach wie vor in der Sägemühle arbeitete.
    »Bonnie sagt, das Mädchen hat diese Hungerkrankheit«, sagte Harmon. »Aber ich weiß nicht, ob das stimmt.«
    Daisy schüttelte den Kopf. »Hübsche junge Mädchen, die sich abhungern. Da liest man jetzt immer öfter drüber. Sie denken, auf diese Weise haben sie ihr Leben im Griff, aber irgendwann hat das Hungern sie im Griff, und sie können nicht aufhören. Furchtbar traurig, so was.«
    Harmon hatte selber abgenommen. Es war gar nicht mal so schwer gewesen; er hatte einfach aufgehört, sich beim Abendessen noch einmal nachzunehmen, und schnitt sich kleinere Stücke Kuchen ab. Er fühlte sich besser. Er erzählte es Daisy, und sie nickte.
    »Genau wie bei mir und dem Rauchen. Ich schiebe meine
erste Zigarette jetzt immer ein Stück länger auf, und inzwischen bin ich schon richtig weit - drei Uhr nachmittags.«
    »Das ist phantastisch, Daisy.« Ihm war schon aufgefallen, dass sie an den Sonntagvormittagen nicht mehr rauchte, aber er hatte es nicht kommentieren wollen. Den Kampf mit den eigenen Gelüsten musste jeder für sich selber ausfechten.
    »Sag mal, Harmon«, begann Daisy mit einem raschen, mutwilligen Lächeln und zupfte sich etwas vom Hosenbein, »wer war eigentlich deine erste Freundin?«
    In der vierten Klasse war er in Candy Connelly verliebt gewesen. Er hatte immer hinter ihr gestanden und aufgepasst, wenn sie die Leiter an der großen Rutsche im Pausenhof hochkletterte, und einmal war sie heruntergefallen. Als sie weinte, war er hilflos gewesen vor Liebe. All das mit neun Jahren. Als Daisy neun war, sagte sie, hatte ihre Mutter ihr ein gelbes Kleid für das Frühjahrskonzert genäht, das die Schule jedes Jahr veranstaltete. »Und abends, als wir gerade losgehen wollten, hat sie mir noch schnell einen weißen Fliederzweig angesteckt«, erzählte sie mit ihrem leisen Lachen. »Mein Gott, fand ich mich hübsch, wie wir rüber zur Schule gegangen sind.«
    Genäht hatte Harmons Mutter nicht, aber dafür hatte sie an Weihnachten immer Popcornbälle gemacht. Noch während er es sagte, war ihm, als würde ihm etwas zurückgegeben, so als wären die zahllosen Verluste des Lebens weggewälzt worden wie ein großer Stein, und darunter kämen - unter dem aufmerksamen Blick von Daisys blauen Augen - all die Freuden und Tröstungen von früher zum Vorschein.
    Als er nach Hause kam, sagte Bonnie: »Wo warst du so lang? Seit Tagen versprichst du, du steigst endlich aufs Dach und machst die Abflüsse frei.«
    Er gab ihr die Tüte mit ihrem Doughnut.
    »Und aus dem Rohr unter der Spüle tropft es auch schon
seit Wochen in den Eimer. Es geht doch nichts über einen Mann mit einem Heimwerkerladen.«
    Unvermittelt durchzuckte ihn nackte Angst. Er setzte sich in seinen Sessel. Einen Augenblick später sagte er: »Sag mal, Bonnie, wie fändest du es, wenn wir hier wegziehen?«
    »Wegziehen?«
    »Nach Florida zum Beispiel.«
    »Bist du verrückt geworden? Oder soll das ein Witz sein?«
    »Wo das ganze Jahr die Sonne scheint. Und wo wir kein so großes, leeres Haus hätten.«
    »Auf so einen Unsinn antworte ich gar nicht erst.« Sie schaute in die Tüte mit dem Doughnut. »Zimt? Du weißt doch, dass ich keinen Zimt mag.«
    »Was anderes gab’s nicht.« Er griff nach einer Zeitschrift, um Bonnie nicht ansehen zu müssen. Aber gleich darauf sagte er: »Macht es dir denn gar nichts aus, Bonnie, dass keiner von den Jungs den Laden übernimmt?«
    Bonnie runzelte die Stirn. »Das haben wir doch längst alles besprochen, Harmon. Warum sollte uns das etwas ausmachen? Sie können tun und lassen, was sie wollen.«
    »Sicher können sie das. Aber nett wäre es trotzdem gewesen. Dann wäre wenigstens einer hier in der Nähe.«
    »Diese negative Sicht, die du auf alles hast. Die macht mich wahnsinnig.«
    »Negativ?«
    »Leb doch mal ein bisschen auf.« Sie krumpelte die Doughnut-Tüte zu. »Und mach endlich die Regenrinne sauber. Es ist nicht angenehm, Harmon, sich als Nörglerin fühlen zu müssen.«
     
    Bis Anfang November waren alle Blätter abgefallen, die Bäume entlang der Main Street

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