Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Olive?«
»Nein. Danke.« Olive war um den Tisch herumgegangen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Aber dieser Doughnut sieht gut aus. Habt ihr noch mehr?«
»Du hast Glück.« Mit einem raschen Blick zu Harmon nahm Daisy die andere Tüte - die für Bonnie bestimmte - und schob sie Olive hin. »Soll ich dir einen Teller holen?«
»Ach was.« Olive beugte den Oberkörper weit über den Tisch und verschlang den Doughnut. Schweigen trat ein.
»Dann mach ich dir schnell den Scheck fertig.« Daisy stand auf und ging nach nebenan.
»Henry geht’s gut?«, fragte Harmon. »Christopher?«
Olive nickte mit vollem Mund. Nahezu jeder in der Stadt wusste, dass sie ihre neue Schwiegertochter nicht leiden konnte, aber andererseits, dachte Harmon, würde sie wohl keine Frau leiden können, die ihr Sohn heiratete. Christophers Frau war Ärztin, eine smarte Städterin, Harmon wusste nicht mehr, von wo. Vielleicht mixte sie ihr Müsli selbst, vielleicht machte sie Joga - er hatte keine Ahnung. Olive schaute Nina an, und Harmon folgte ihrem Blick. Nina saß reglos, mit hängenden Schultern, jede Rippe an ihrem Rücken war einzeln zu sehen unter dem dünnen T-Shirt; die Hand, mit der sie sein Taschentuch umkrallte, hatte etwas von einer Möwenklaue. Ihr Kopf wirkte zu groß und zu schwer für den gekerbten Stecken ihres Rückgrats. Die Ader, die sich vom Haaransatz bis in die Stirn hineinzog, schimmerte grünlichblau.
Olive aß das letzte Stück Doughnut, wischte sich den Zucker von den Fingern, lehnte sich zurück und sagte: »Du bist am Verhungern.«
Das Mädchen rührte sich nicht, sagte nur: »Ach ja?«
»Ich bin auch am Verhungern«, sagte Olive. Das Mädchen schaute zu ihr herüber. »Klar«, sagte Olive. »Oder was
glaubst du, warum ich jeden Doughnut esse, den ich in die Finger kriege?«
»Sie und verhungern«, sagte Nina angewidert.
»Aber ja. Alle sind wir am Verhungern.«
»Wow«, murmelte Nina. »Tiefgründig.«
Olive suchte in ihrer großen schwarzen Handtasche herum, holte ein Papiertaschentuch heraus und tupfte sich damit den Mund, die Stirn. Harmon brauchte ein Weilchen, um zu begreifen, wie aufgewühlt sie war. Als Daisy zurückkam und ihr mit einem »Hier, bitte sehr, Olive« einen Umschlag hinschob, nickte Olive nur und steckte ihn ein.
»Ach du Scheiße«, sagte Nina. »Okay, Entschuldigung.« Olive Kitteridge weinte. Wenn es in der Stadt einen Menschen gab, bei dem Harmon niemals damit gerechnet hätte, ihn weinen zu sehen, dann war dieser Mensch Olive Kitteridge. Aber da saß sie, groß und dick, mit ihren plumpen Handgelenken, und ihr Mund bebte, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schüttelte leicht den Kopf, wie um die Entschuldigung abzutun.
»Ich muss los«, sagte sie dann, aber sie blieb, wo sie war.
»Olive, wenn ich irgendetwas tun kann …« Daisy beugte sich vor.
Wieder schüttelte Olive den Kopf, putzte sich die Nase. Sie sah Nina an und sagte leise: »Ich weiß nicht, wer du bist, junge Dame, aber du brichst mir das Herz.«
»Ich mach das nicht mit Fleiß«, sagte Nina abwehrend. »Ich kann nichts dafür.«
»Ach, das weiß ich doch. Das weiß ich.« Olive nickte. »Ich war zweiunddreißig Jahre lang Lehrerin. Ich hatte nie eine Schülerin, die so krank war wie du, das gab’s zu meiner Zeit noch nicht, jedenfalls nicht hier. Aber ich weiß es von allen meinen Jahren mit Kindern und - und - einfach vom Leben …« Olive stand auf, klopfte sich die Krümel vom
Busen. »Egal. Es tut mir leid.« Sie wandte sich zum Gehen, aber als sie an dem Mädchen vorbeikam, hielt sie inne. Zögernd hob sie die Hand, wollte sie schon senken, hob sie dann wieder und berührte den Kopf des Mädchens doch. Und unter ihrer schweren Hand spürte sie offenbar etwas, das Harmon nicht sehen konnte, denn sie ließ die Hand auf die knochendürre Schulter hinabgleiten, und das Mädchen, unter deren geschlossenen Lidern die Tränen hervorliefen, lehnte die Wange daran.
»Ich wär viel lieber nicht so«, flüsterte sie.
»Natürlich«, sagte Olive. »Und wir helfen dir dabei.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das wollten sie alle. Aber ich werd jedes Mal wieder krank. Es hat keinen Sinn.«
Olive zog einen Stuhl heran, so dass sie den Kopf des Mädchens in ihren breiten Schoß betten konnte. Sie streichelte ihr übers Haar. Ein paar Haare blieben ihr zwischen den Fingern hängen, und sie nickte vielsagend zu Daisy und Harmon hinüber, bevor sie sie auf den Boden schweben ließ.
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